Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der »Sarrazindebatte«. Münster 2011. 262 S.
Warum überhaupt konnte Sarrazin so große Beachtung finden, welcher gesellschaftliche Diskurs hat das ermöglicht und welche Verwerfungen zeigt der »Bestseller als Krisensymptom« (Das Argument 289/2010, 866) an? Und wie kann die Debatte in den Blick genommen werden, ohne die Aufmerksamkeit ständig auf Sarrazins Thesen und Kategorien zu lenken und ihnen damit zusätzlich Gehör zu verschaffen?
Denn selbst kritische Beiträge in Medien und Wissenschaft greifen seine Begrifflichkeiten wie ›muslimische Migranten‹ oder seinen zentralen Bezugspunkt, die deutsche Nation, auf. Der vorliegende Band ist eine erfreuliche Ausnahme, indem er »rassistische Normalisierungsprozesse« ins Zentrum stellt.
»Sarrazin« sei ein »etabliertes Symbol«, das auf die »ausgrenzende und verwertungslogische Rede von ›Integrationsverweigerung‹ bis zur Vererbung von ›Intelligenz‹« (10) verweist. Hg. will »Anstöße für den Alltag, die politische Praxis und für theoretische Auseinandersetzungen« (9) geben. Die Beiträge untersuchen Migration und Rassismus, Bevölkerungs- und Biopolitik, Kapital und Nation sowie politische Interventionen. Aufgrund der politischen Relevanz ihrer Analyse stechen vier Aufsätze hervor. Friedrich und Hannah Schultes fokussieren in einer Diskursanalyse der medialen »Sarrazindebatte« die Repräsentationen von Migrantinnen und Migranten. Durch die Forderung nach individueller Integration im Sinne von Assimilation und den durch die »Integrationsbrille« verengten Blick auf Migrantinnen und Migranten würden »rassistische Strukturen« (91) unsichtbar. Yasemin Shooman untersucht, wie durch die Essentialisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung [...] die Hybridität, Durchlässigkeit und Dynamik kultureller Identitäten« (64) systematisch geleugnet wird. Antimuslimischer Rassismus zeige sich in der »Rassifizierung« von Muslimen und Musliminnen (aber auch nichtmuslimischer Menschen), indem sie als einheitlich religiös determinierte Gruppe der weißen säkularen Gesellschaft gegenübergestellt und abgewertet würden. Ein scheinbar religiös bestimmtes Äußeres (Bart, Kopftuch) oder auch nur ein Name führen zu sozialem Ausschluss, der soweit gehen kann, dass eine Ärztin die Behandlung eines Jungen aufgrund seines Namens verweigert. Dass es dabei um die Sicherung von Herrschaftsprivilegien geht, werde darin deutlich, dass nicht über das Kopftuch einer Putzfrau oder Hinterhofmoscheen«, sondern über (scheinbar) muslimische Lehrerinnen oder repräsentative Bauten gestritten wird. Juliane Karakayali nimmt nicht nur Rassismus, sondern auch Klasse und Geschlecht in den Blick. Mit dem bevölkerungspolitischen Instrument Elterngeld werde Geschlecht unsichtbar gemacht, indem es v.a. um die individuelle Leistungsfähigkeit und nicht um strukturelle Barrieren gehe. Gesellschaftliche Unterschiede würden verschärft, indem gebildete und gut verdienende Frauen politisch unterstützt, einkommensschwache Familien jedoch mit der Ablösung des Erziehungsgelds durch das Elterngeld zusätzlich finanziell benachteiligt werden. Der Ausschluss »muslimischer Migrantinnen« (135) resultiere aus ihrer häufigen Zugehörigkeit zur »Unterschicht« sowie der Zuschreibung familiärer und religiöser Werte, die mit der »neoliberalen Leistungslogik« (144) inkompatibel seien. Moritz Altenried untersucht ebenfalls die bevölkerungspolitische Argumentation Sarrazins, welche die Menschen nach Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit klassifiziere und diejenigen aussortiere, die nicht gebraucht würden. Integration wird somit auch als »biopolitisches Dispositiv« (155) entlarvt.
Das Vorhaben, sich mit der Debatte und nicht mit Sarrazin und seinem Buch zu beschäftigen, wird nicht durchgängig eingehalten. Vor allem Elke Kohlmanns Analyse von »Sarrazins Topographie des Sozialen« (163) diskutiert intensiv Sarrazins Buch. Ebenso Jürgen Link, der es als »protonormalistisches Manifest« (182) bezeichnet, d.h. als Programmschrift einer engen und starren Vorstellung von Normalität. Jörg Kronauer liest Sarrazins Text als Beleg und Triebkraft für die »Formierung des aufstrebenden deutschen Nationalstaates« (215). Das neue deutsche Nationalbewusstsein und der Elitendiskurs über die Notwendigkeit der weltweiten Durchsetzungsfähigkeit Deutschlands habe einen der ihren gefunden, auch wenn Sarrazins Hetze gegen Muslime noch nicht mehrheitsfähig sei.
Trotz der unterschiedlichen Zugänge der Beiträge lassen sich gemeinsame Erklärungen der im Titel diagnostizierten Normalisierung des Rassismus auffinden. Aus Angst vor dem Verlust der eigenen Privilegien liege es im Interesse der gesellschaftlichen Eliten sowie der Mittelschicht, gerade in der als Bedrohung empfundenen neoliberalen Globalisierung und der Finanzkrise, Bevölkerungsgruppen auszugrenzen. Rassismus werde dabei durch ökonomisches Nützlichkeitsdenken im Sinne der individualisierten Leistungsgesellschaft unsichtbar gemacht und gleichzeitig über kulturelle, religiöse und nationale Zuschreibungen reaktiviert und normalisiert.
Selma Haupt (Wuppertal)