Paul Reuber, Anke Strüver, Günther Wolkersdorfer (Hg.): Politische Geographien Europas – Annäherungen an ein umstrittenes Konstrukt. 2. Aufl. Berlin 2012. 206 S.

Über Grenzen als Konstrukte – und über Grenzen des Konstruktiven?

In der Humangeographie wird ein Dreiecksverhältnis favorisiert, das durch die Eckpunkte Raum, Gesellschaft und «…» markiert wird, wobei «…» als Platzhalter von Elementen der Humangeographie zu lesen ist. Als Hintergrund gilt die nicht ganz überraschende Wahrnehmung, dass Räume nur unzulänglich mit Distanzen oder ähnlichem zu fassen sind. Bereits die geläufige Unterscheidung von topographischem und geographischem Raum verweist auf komplexere Sachverhalte. Für die im vorliegenden Band thematisierte «Politische Geographie» wird das Dreiecksverhältnis um den Faktor Politik oder Macht ergänzt und mit neuen Konzepten und Fragen konfrontiert.

 

Bereits im Titel «Politische Geographien Europas – Annäherungen an ein umstrittenes Konstrukt» sind Wegweisungen angedeutet. Zunächst ist der regionale Bezug festgelegt. Sodann ist richtigerweise von Politischen Geographien die Rede – woraus zu entnehmen ist, dass es die eine und womöglich einzig zutreffende oder wahre Politische Geographie Europas nicht geben kann. Schliesslich wird deutlich, dass es sich um ein Konstrukt handelt, das wiederum umstritten sein kann. Zehn Beiträge teilen auf unterschiedlichen Massstabsebenen und vielfach mit übereinstimmendem theoretischem Rahmen Beobachtungen zum Thema mit, die sich mit Abgrenzung und Inhalt von Europa/EU, Fragen zu europäischen Grenzen, Regionalismus sowie transnationaler Mobilität befassen.

Dass regionale Einheiten grundsätzlich Konstrukte sind, ist nicht neu – man erinnere sich nur an die Definition von «Region». Dies auch vor dem Hintergrund, dass es keine objektiven Regionen gibt. Ebenso kann es das Wahre oder Falsche solcher Konstruktionen immer nur in Bezug auf angewandte Kriterien und die damit verfolgten Interessen geben. Insoweit fanden sich und werden sich zukünftig wohl mehrere/viele Politische Geographien von Europa finden. Und zutreffend ist jener frühe gedankliche «Kurzschluss», aus Raumzugehörigkeit «richtiges» Handeln ableiten zu wollen.

Doch eine Gesellschaft lebt in einem Raum, dem sie auch zur eigenen Identifikation Form gegeben, das heisst ihn begrenzt hat, oder dessen Grenzen von Dritten aufgezwungen worden sind. Geographische Einheiten und ihre politischen Grenzen sind im weitesten Sinne gesellschaftliche Konstrukte, die einem Zweck dienen: Sie sind Konstrukte zur Ordnung oder Organisation. Und es ist zunächst belanglos, wie Dritte Motive und Kriterien dieser Grenzziehung bewerten. Zweckmässig ist nur, dass eine (politische) Gemeinschaft sich eine räumliche Form und Grenze gibt; das Beispiel der EU unterstreicht diese Notwendigkeit und demonstriert die Konsequenzen aus einer ex ante unterlassenen Grenzkriteriendefinition.

So sehr in den Texten die Form Europas als umstrittenes Konstrukt intendiert wird, so sehr werden immer wieder Grenzen thematisiert, die ebenfalls ein Konstrukt sind. Mithin fallen sie vielfältig aus, weil sie mit unterschiedlichen Interessen verbunden sind. Dieser Gedanke wird überdeutlich vermittelt und durch regionale Exempel bereichert. Die viel grundsätzlichere Frage nach der Notwendigkeit für die EU, eventuell eine Grenze zu ziehen, wird nicht gestellt und auch nicht wissenschaftlich andiskutiert. Damit verbunden wäre gegebenenfalls die Vorstellung von der EU als einem entgrenzten Projekt, das freilich Antworten hinsichtlich seiner Funktionsfähigkeit erzwingen würde. Sollte der zeitgenössische moralische Imperativ keine Begrenzung verlangen, hätte dies zur Folge, dass Ausweitung, Vertiefung und demokratische Funktionsfähigkeit der EU kaum auszutarieren wären. Die EU als «begrenztes» Projekt verlangt hingegen nach Überlegungen, wie ihre Grenzen bezüglich ihrer Funktionen ausgestaltet werden sollten und welche Konsequenzen zu erwarten sind.

Ulrich Ante, Würzburg


Quelle: disP 189, 2/2012, S. 118-119

 

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