Regine Buschauer, Katharine S. Willis (Hg.): Locative Media. Medialität und Räumlichkeit – Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien. Bielefeld 2013. 306 S.
Mit der zunehmenden Mediatisierung des Alltags, die in der jüngeren Vergangenheit durch Web 2.0 und die weite Verbreitung von Smartphones eine weitere Stufe erreicht hat, stellt sich immer drängender die Frage nach den sozialen und kulturellen räumlichen Implikationen dieser Entwicklungen. In den letzten Jahren hat sich dementsprechend auch die Befassung der Geographie mit diesem Thema so weit verstärkt, dass bisweilen von einem Media Turn in der Geographie in Analogie zu einem Spatial Turn der Medien – oder allgemeiner der Kultur-und Sozialwissenschaften – gesprochen wird (Döring/Thielmann 2008). Der hier rezensierte Sammelband befasst sich mit dem aus humangeographischer Perspektive besonders interessanten Thema der Locative Media. Diese digitalen Medien integrieren den jenseitig-virtuellen Cyberspace als „Bestandteil räumlicher Alltagswelten und alltäglicher Raumerfahrungen“ (Buschauer/Willis: 7), indem „vormals getrennte geographische, physische und mediale Räume“ (Buschauer/Willis: 7) miteinander verknüpft werden.
Einige Funktionsweisen von Locative Media, wie die Nutzung von Verortungstechnologien zur Indikation im Internet der eigenen Position im physischen Raum, lassen sich dabei als eine neue Emergenz der mit der Entwicklung des World Wide Webs begonnenen Unterminierung der „al-ten Unterscheidungen in Individualkommunikation und Massenkommunikation oder in Kommunikator und Rezipient“ (Faulstich 2002: 41) interpretieren. Sie kommen damit dem Bedürfnis nach medialer Präsentation der eignen Patchworkidentität durch die Nutzung und Produktion von Medieninhalten nach. Daneben werden drei kommunikativ erzeugte Bedürfnisse postmoderner Selbstversicherung befriedigt: das Informationsbedürfnis, mit dem Ziel der Verbesserung der Orientierungsfähigkeit in der Umwelt, das Bedürfnis nach sozialer Interaktion und Integration als Versicherung der eigenen Zugehörigkeit zu mindestens einer sozialen Gemeinschaft und das Bedürfnis nach Unterhaltung, also Ablenkung, emotionaler Entlastung bzw. ästhetischer Erbauung (Schramm/Hasebrink 2004). Die mediale Selbstinszenierung erhält dabei eine herausgehobene Bedeutung für die eigene Selbstvergewisserung. Liessmanns (1999: 113) stellt in diesem Kontext fest: „Wirklichkeit beginnt sich daran zu messen, ob sie im Bilde war oder nicht“. Heute lässt sich der Satz für den in Sozialnetzwerken Aktiven und seine im physischen Raum manifestierenden postmodernen Identitätssucher neu formulieren: ‚die Wirklichkeit der eigenen Existenz beginnt sich daran zu messen, ob die eigenen medial inszenierten Verhaltensspuren auf dokumentierte Beachtung durch die jeweils für relevant gehaltene Internetcommunity stießen‘. Der vorliegende, teilweise in Deutsch, teilweise in Englisch verfasste Band befasst sich in diesem Kontext mit der Hybridisierung von physischem und virtuellem Raum und mit der Frage, wie die virtuelle Präsenz von Räumen auf physische Räume rückwirkt. Nach der Einleitung der Herausgeberinnen, die als einziger Beitrag sowohl in deutscher wie in englischer Sprache verfasst ist, folgen vier Teile. Der erste Teil ist mit ‚Verortungen lokativer Medien‘ überschrieben und befasst sich aus der Perspektive unterschiedlicher Medien, Kultur- und Sozialtheorien mit Locative Media. Der erste der drei Beiträge ‚Executable Urbanisms: Messing with Ubicomp`s Singular Future‘ (Marc Tuters/ Michiel de Lange) reflektiert dabei mit Rückgriff auf die Theorien Henri Lefebrves und Frederic Jamesons kritisch die scheinbaren Möglichkeiten der Lösung von räumlichen Konflikten, die mit der Nutzung von Locative Media verbunden sind. Johannes Paßmann und Tristan Thielmann greifen in ihrem Beitrag ‚Beinahe Medien: Die medialen Grenzen der Geomedien‘ auf den von Bruno Latour gesetzten Rahmen der Akteurs-Netzwerk-Theorie zurück, wobei insbesondere das ‚Panoptikum‘ von Google Earth, aber auch die sozialen Konsequenzen der Verfolgung von Wegen von Personen mittels derer Auf- und Nachzeichnung ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden. In der ‚Medienkulturgeschichte am Leitfaden des Raumes‘ verfolgt Stephan Günzel die These, die Geschichte von Medienumbrüchen, verstanden als „der historische Wechsel des Leitmediums“ (105), ließe sich anhand sich verändernder Räumlichkeiten beschreiben, da Raum die Möglichkeit böte, „die Transformation von Kultur hinsichtlich von Kommunikationsmitteln zu analysieren“ (105) anhand medientheoretischer Ansätze von McLuhan, Foucault und Virilio. Der zweite Teil des Buches zu ‚Location und Kartographie‘ wird mit dem Beitrag ‚Digitale Kartographie und Locative Media. Eine historische Perspektive‘ von Manuel Schramm eröffnet. Dabei wird die historische Entwicklung der Kartographie bis zur Entwicklung mobilisierter Geographischer Informationssysteme nachgezeichnet und in ihrer medienspezifischen Gewinnung, Aufbereitung und Auswahl von Daten reflektiert. Im nächsten Beitrag ‚This is (not) a map‘ befasst sich Teri Rueb mit ihren künstlerischen Arbeiten mit GPS, die sie in Anlehnung an die Arbeiten von Deleuze als raumerzeugende Praxis reflektiert. In ‚Geolokation mittels GPS – Überwachung im Selbstversuch‘ beschreibt Jens-Martin Loebel seine Erfahrungen mit Location-Based Social Networks, bei denen seine Position im physischen Raum ständig im Internet abrufbar ist. Dabei reflektiert er auch die Gefahren, die durch die Nutzung einer solchen Technologie ausgehen. Der letzte Beitrag des zweiten Teils ‚Maps That Watch. Zur immersiven Kartographie am Beispiel von Google‘ befasst sich Silke Roesler-Keilholz kritisch mit den Fragen der mit Google Earth verbundenen medialen Deutungsmacht und Überwachungsmöglichkeit. Der dritte Teil zum Thema ‚Soziale und mobile Perspektiven‘ beginnt mit Joachim R. Höflichs Beitrag ‚Bewegungen, Stillstände und die anwesenden Anderen: Mobile Kommunikation im öffentlichen Raum‘, der sich mit sozialen und kulturellen Implikationen der öffentlichen Nutzung von Mobiltelefonen befasst. In ‚The Game of Being Social‘ behandelt Larissa Hjorth auf Grundlage einer qualitativen Studie die Formen der Nutzung von Geomedien in China. Die Hybridisierungen von physischem und virtuellem Raum durch die Nutzung von Locative Media untersucht Jen Southern in seinem Beitrag zu ‚Comobile Perspectives‘. Mithilfe historischer Ereignisse wie der Beschreibung der Erdoberfläche von einem Ballon aus, referiert Southern über Wandlungsprozesse sozialer Raumkonstruktionen. Der abschließende Teil des Buches wird durch Jeremy Hights ‚Locative Narrative‘ eröffnet. Dieser Essay befasst sich mit der Möglichkeit lokativer Medien bezüglich der lokalen Verortung von Menschen – auch in Form akustischer Konnotationen. In ‚Situated Stories/Mobile Technologies‘ befassen sich Hana Iverson und Siobhan O`Flynn mit Möglichkeiten der Erfassung, Sammlung und Verfügbarmachung von mündlichen Erzählungen von Quartiersbewohnern. Der abschließende Beitrag dieses Teils von Laura Papplow und Lasse Scherffig ‚Locative Arts – neue Erzählung des Raums?‘ ist mit der aktuellen lokativen Medienkunst befasst und vor dem Hintergrund der Aufhebung von ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ analysiert. Gerade der letzte Beitrag verdeutlicht die Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst.
Bei dem besprochenen Buch handelt es sich um den zweiten Band der von Gabriele Schabacher, Jens Schröter, Erhard Schüttpelz und Tristen Thielmann herausgegebenen Reihe ‚Locating Media/Situierte Medien‘, die sich zum Ziel gesetzt hat, Forschungsergebnisse zu Entstehung und Nutzung wie auch Verbreitung geomedialer und historischer Entwicklung von Medien mit Hilfe der Methoden der teilnehmenden Beobachtung, audiovisuellen Korpuserstellungen und Interviews zu präsentieren. Den Ansprüchen der Reihe wird der Band gerecht. Die präsentierten Beiträge zeigen aus unterschiedlichen fachlichen sozial-, kultur- und raumwissenschaftlichen Perspektiven auf das bislang noch wenig untersuchte Feld der Locative Media. Das Buch ist anspruchsvoll gestaltet und enthält zahlreiche (zumeist) farbige Abbildungen, die die textlichen Ausführungen in angemessener Weise illustrieren. Personen, die mit den aktuellen Diskursen der Medienforschung weniger vertraut sind, werden an der einen oder anderen Stelle Mühe haben, die bisweilen voraussetzungsvollen Texte ohne größere Anstrengungen zu erfassen. Leider haben die Herausgeberinnen darauf verzichtet, der Leserin/dem Leser einige Hilfestellungen für das Verständnis oder auch nur für das Selbstverständnis des Sammelbandes an die Hand zu geben: Die Einleitung liefert einige allgemeine Worte, verzichtet jedoch darauf, das Buch in den Forschungskontext der Medienforschung (oder allgemeiner der kultur-und sozialwissenschaftlichen Forschung) einzuordnen. Auch wird ein Hinweis vermisst, wer die Adressaten des Sammelbandes sind. Auch hätten die teilweise sehr anregenden Beiträge aus unterschiedlichen disziplinären wie auch theoretischen Perspektiven ein zusammenfassendes, akzentuierendes, abwägendes und weitere Forschungsbedarfe formulierendes Fazit verdient. So erhält der Band eher den Charakter einer Sammlung thematisch lose gekoppelter Einzelbeiträge. Aus geographischer Perspektive weist der Band die vielfältige und teilweise pauschale Verwendung von Worten wie Raum, teilweise mit Adjektiven wie geographisch oder physisch versehen, Stadt oder Landschaft auf. Auch sind die Beschreibungen technischer Funktionsweisen, insbesondere von GPS, bei einzelnen Beiträgen mitunter redundant.
Der besprochene Band beinhaltet somit für die Insider des Diskurses der raumorientierten Medienforschung zahlreiche interessante Ein- und Ausblicke. Für jene, die sich außerhalb dieses Diskurses befinden, bleiben große Teile – aufgrund des dargestellten weitgehenden Verzichts auf Kontextualisierung seitens der Herausgeberinnen – schwer zugänglich. Dies ist umso bedauerlicher, weil es sich bei dem Inhalt des Bandes um ein Thema handelt, das auch in umfänglicheren Zusammenhängen, wie der Humangeographie, eine stärkere Beachtung erfahren sollte.
Literatur
Döring, Jörg /Thielmann, Tristan (2008; Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld.
Faulstich, Werner (2002): Einführung in die Medienwissenschaft. Probleme – Methoden – Domänen. München.
Liessmann, Konrad Paul (1999): Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung. Wien.
Schramm, Holger/Hasebrink, Uwe (2004): Fernsehnutzung und Fernsehwirkung. In: Mangold, Rokland/Vorderer, Peter/ Bente, Gary (Hg.): Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen, 466-492.
Olaf Kühne
Quelle: geographische revue, 15. Jahrgang, 2013, Heft 1, S. 74-77
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