Tobias ten Brink (Hg.): Globale Rivalitäten. Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus. Stuttgart 2011. 225 S.
Die nahezu idyllisch zu nennenden Vorstellungen von einem Ende der Geschichte waren schnell widerlegt, aber auch die Hoffnungen auf eine Globalisierung, in deren Verlauf die Rolle der Staaten zugunsten globaler Integration zurückgedrängt werde, haben sich weitgehend zerschlagen. Der vorliegende Sammelband nimmt diese Diagnose zum Anlass, vor allem nach der Rolle des Staates, genauer des internationalen Staatensystems im gegenwärtigen globalen Geschehen zu fragen.
Dies geschieht in zwei großen Schritten: Zunächst geht es um neue theoretische Orientierungen: Carlo Masala referiert neue Ausformungen des Realismus, der wohl einflussreichsten Denkschule der Internationalen Beziehungen (IB). Er zeigt in seinem Überblick insbesondere, dass diese Richtung in sich weit differenzierter ist, als gemeinhin angenommen. Ausgehend von dem Begriff der „internationalen Gesellschaft“, der in der Englischen Schule entwickelt wurde, stellt Lothar Brock Konzepte der „Gleichzeitigkeit“ „koexistierend(r) Logiken der staatenübergreifenden Politik“ (53f) dar, wobei er unterschiedliche Ebenen der Vergesellschaftung – „internationale Gesellschaft“ vs. „Weltgesellschaft“ oder „zwischenstaatliche, zwischenmenschliche und transnationale Gesellschaften“
(54) – unterscheidet. In dieser Perspektive sieht er insbesondere die kontroversen Themen der Menschenrechte und vor allem der „Responsibility to Protect“ (R2P), die er vor dem Hintergrund einer – Anfang 2011 sicher verständlichen – Aufbruchsperspektive in der arabischen Welt diskutiert. Zugleich erscheint gerade „die Bekräftigung der R2P“ im vorgestellten Bezugsrahmen als „Aufwertung der funktionalen Differenzierung von Governance-Strukturen“, damit aber nicht als Tendenz zur „Weltgesellschaft“, sondern zur „Komplexitätssteigerung der Konfliktlinien“ (63).
Ähnlich, aber gleichsam in disziplinär umgekehrter Vorgehensweise skizziert Wolfgang Knöbl den Versuch, vor allem die Machtsoziologie, die Michael Mann in seinem monumentalen, noch nicht abgeschlossenen Werk entwickelt, für die IB fruchtbar zu machen. Dabei steht die „enge Rationalitätskonzeption“ Manns, die unterschiedliche Rationalitäten, d.h. letztlich Zielvorstellungen gerade ausschließe, in gewisser Weise gegen die von Brock skizzierte Sicht. Insbesondere aber steht Mann für eine sorgfältige Abwägung der empirischen Belege gegenüber vorschnellen Thesen vom Ende des Nationalstaates: Die EU ist ein Sonderfall, und staatliche Aktivitäten nehmen in Wahrheit eher zu, wobei auch hier eine Komplexitätssteigerung im Sinne einer zunehmenden Diversifizierung des Staates zu verzeichnen ist.
Eine weitere disziplinäre Perspektive entwickelt Bernd Belina mit einem an neueren Konzepten der kritischen Geographie orientierten Überblick über das wieder aufgekommene Interesse an Geopolitik und Geoökonomie, aber auch über neuere Debatten zu der für den Staatsbegriff zentralen Frage des Territoriums. Diese Fragen sind vor allem vor dem Hintergrund des „Spatial Turn“ von zentraler Bedeutung. Nicht zuletzt aus der Einsicht, dass Raum sozial konstruiert ist, folgt aus dieser Sicht letztlich die Kontingenz des Zusammenhangs zwischen Staat, Territorialität und Souveränität. Deren Reifizierung verleitet u.a. dazu, die Folgen der aktuellen Globalisierungsprozesse zu überschätzen, ohne dass freilich die Praxis der „wechselseitigen Anerkennung der ‘territorialen Integrität’ … souveräner Staaten“ (96) obsolet wäre. Eine viel diskutierte Strömung repräsentieren die an Marx anknüpfenden kritischen Geographen um David Harvey. Bedenkenswert ist die von Belina zitierte Kritik Heide Gerstenbergers, Harvey begrenze die „Analyse des kapitalistischen Systems … auf die Benennung seiner Funktionen“ (99). Dennoch erlaubt die Verknüpfung mit der Problematik der Akkumulation des Kapitals die Analyse der Indienstnahme der Geopolitik und Geoökonomie „von staatlichen Apparaten zusammen mit kapitalistischen Akteuren“ (101).
In der Reihe kritischer Denkschulen darf der Neogramscianismus nicht fehlen. Laura Horn bietet einen guten Überblick über die Problematik der Hegemonie, wobei freilich etwa bei der Fordismus-Analyse von Robert W. Cox (109) eine Fixierung auf den globalen Norden deutlich wird – ein Kritikpunkt, der den von Horn referierten hinzuzufügen wäre. Sie schließt mit einer Skizze konkreter Forschung zum hegemonialen Projekt der US-Neokonservativen.
Im zweiten Teil des Buches werden ausführlicher konkrete Analysen vorgestellt. Stefan Schmalz geht den Folgen der „Weltwirtschaftskrise 2008“ für das „internationale Staatensystem“ (125) nach und betont dabei vor dem Hintergrund historischer Krisenerfahrungen, vor allem derer von 1929, insbesondere die Gewichtsverschiebungen innerhalb dieses Systems. Wesentlich sind dabei die Ungleichzeitigkeiten zwischen den unterschiedlichen Teilsystemen, vor allem Wirtschaft, Politik und Militär. Insgesamt befinden wir uns Schmalz zufolge in einer Art Hängepartie: „Anders als in der Zwischenkriegsphase, als England nicht mehr fähig und die USA nicht Willens waren, eine neue globale Regelung zu schaffen, sind China und die Schwellenländer heute hierzu noch nicht in der Lage und die USA und die EU offenkundig nicht dazu bereit.“ (141) Die dadurch bedingte Labilität kann insbesondere in einen „Währungsabwertungswettlauf“ münden, und die „soziale Polarisierung … in eine politische Radikalisierung umschl(agen)“ (142). Dieser Gefahr habe „der Westen“ durch eine kluge Politik zu begegnen, d.h. „den eigenen Machtverlust gegenüber den aufstrebenden Schwellenländern … zu akzeptieren“ (142).
Wird schon der Wert dieses Artikels durch das zum Zeitpunkt der Drucklegung bereits überholte Datenmaterial eingeschränkt, so gilt dies verstärkt für Ralf Roloffs Analyse der Außenpolitik der Obama-Administration. Das hier gezeichnete, von der Anfangseuphorie bestimmte Bild einer durchgängigen Umkehr vom Vorgehen der Administration von Bush jun. und einer Rückkehr zu den Prinzipien der Vorgänger-Administrationen – wobei Roloff freilich die Übertretung dieser Prinzipien unter Ronald Reagan vermerkt – lässt sich bestenfalls durch einen frühen Zeitpunkt der Niederschrift erklären.
Dagegen erläutert Tobias ten Brink informativ einen wichtigen Aspekt des Aufstiegs der VR Chinas: ihre Beziehungen zu den anderen Staaten Ostasiens. Wesentlich ist dabei, dass gerade die stärksten Staaten – China, Japan und Südkorea – nicht Mitglied in der Regionalorganisation ASEAN sind, sondern in deren Beratungen lediglich einbezogen werden. Außerdem ist die Region eine wichtige Interessensphäre der USA. China hat vor allem mittels „weicher“ Machtstrategien an Ansehen und Einfluss gewonnnen, sein Verhältnis zu den USA „lässt sich als gegenseitige, aber angespannte Abhängigkeit kennzeichnen“ (178). Dieses spannungsreiche Verhältnis könnte sich durch einen weiteren Machtgewinn Chinas und verschärfte Rivalitäten durchaus konflikthaft zuspitzen.
Die von Schmalz angesprochene Problematik konkretisiert Jens Wissel anhand der außenpolitischen Schwäche der EU, die eine zuweilen diskutierte eigenständige imperiale Rolle letztlich ausschließe. Gründe sind die bekannte institutionelle Fragmentierung, aber auch – in erkennbarer Dissonanz zu Überlegungen im ersten Teil des Buches – das Fehlen „eines Territoriums, dessen innerer Raum geeint und homogenisiert“ ist, ferner der Mangel eines „Staatsprojekt(es)“ (191). Daher verwundert es nicht, wenn „in der Außen- und Militärpolitik … nach wie vor die europäischen Nationalstaaten innerhalb der EU“ dominieren (198). Aus normativer Sicht erscheint angesichts absehbar zunehmender Gewaltkonflikte die Perspektive vorzuziehen, dass „‘der schlafende Riese’ [EU] nicht erwacht“ (199).
Dies wird aus ganz anderer Perspektive abschließend von Anna Geis unterstrichen, die nachdrücklich die unter Berufung auf Kant immer wieder vorgetragene Annahme vom „demokratischen Frieden“ in Zweifel zieht, nach der Demokratien untereinander nicht Krieg führen. Geis betont insbesondere die Ambivalenzen der Moderne und damit verknüpfte Entzivilisierungstendenzen. Diese seien zwar nicht zu verabsolutieren, doch stünden sie modernisierungstheoretischen Annahmen, zu denen dann auch die These vom „demokratischen Frieden“ zähle, entschieden entgegen. Geis erinnert unter Bezug auf den „Krieg gegen Terror“ an demagogische Mobilisierungspotentiale und die Operation mit Feindbildern zur Schaffung von Konsens, die das Kantsche Bild von den rational ihre Risiken abwägenden, daher den Krieg allermeist ablehnenden Bürgern eher ins Reich der Idylle verweisen. Vor diesem Hintergrund wirft sie der dieser These nach wie vor anhängenden Mainstream-Forschung vor allem eine geschichtslose Sicht vor, die zudem noch auf den zwischenstaatlichen Krieg fixiert sei und damit an einem Großteil des aktuellen Kriegsgeschehens vorbeigehe.
Insgesamt gibt der Band wichtige Hinweise, die die Grundthese in bedenklicher Weise bestätigen: Intensivierte internationale und globale Beziehungen tragen keineswegs per se zur Befriedung der Welt bei, vielmehr besteht die Herausforderung darin, die sich wandelnden Konfiktmuster zu verstehen.
Reinhart Kößler
PERIPHERIE Nr. 126/127, 32. Jg. 2012, S. 363-365
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