Jürgen Bähr und Ulrich Jürgens: Stadtgeographie II. Braunschweig 2009. 352 S.
Folgt man den Ausführungen des Verlages bezüglich der Intentionen des im Rahmen des Geographischen Seminars erschienenen zweibändigen Lehrbuchs zur Stadtgeographie, so hat Band II das Ziel, die allgemeinen Konzepte der Stadtstruktur und Stadtentwicklung aus Band I durch die Darstellung der regionalen und empirisch belegten kulturräumlichen Unterschiede zu ergänzen (vgl. Klappentext Band 1).
Erfreulicherweise haben die Autoren auf Vorbemerkungen wie jener aus der zweiten Auflage des ersten Bandes, der zufolge ein Lehrbuch mit der Auflagenzahl inhaltlich ausreift, verzichtet – vermutlich, weil textliche Veränderungen gegenüber der ersten Auflage kaum zu bemerken sind. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf eine Straffung der Zahl der Subkapitel im Abschnitt über die Stadt der Gegenwart in den Kulturräumen (das Großkapitel präsentiert sich nun wesentlich übersichtlicher) sowie auf das Hinzufügen kurzer Zusammenfassungen und spärlicher Literaturempfehlungen am Schluss der einzelnen Kapitel. Dass diese Tipps „zum Einlesen“ so gut wie ausschließlich deutschsprachige (Sekundär)Publikationen anstelle der englischsprachigen Originale enthalten (und sich auch mehrere Zitate auf andere Lehrbücher der Stadtgeographie anstatt auf die entsprechende Originalliteratur berufen!), ist allerdings eine für ein Lehrbuch mehr als diskussionswürdige Vorgangsweise.
Das Buch wirkt nun durch den Einsatz von Photos und farbigen Abbildungen im Vergleich zur ersten Auflage wesentlich attraktiver. Ärgerlich ist allerdings, dass im Rahmen dieser „Behübschung“ sämtliche Abbildungsquellen als beinahe unentzifferbares Bildquellenverzeichnis ans Ende des Buches verfrachtet worden sind, manch sachlicher Fehler hingegen Bleiberecht genießt. Beispielsweise ist die Abbildung der Hierarchie der Weltstädte (S. 35) inhaltlich so unrichtig geblieben wie ehedem. Ein Blick ins Friedmannsche Original (zum Nachblättern siehe Friedmann, J. 1995: Where we stand: a decade of world city research. – In: Knox, P. and Taylor, P. (eds.): World Cities in a World System. London, Cambridge University Press) hätte genügt, um zu erkennen, dass Chicago zu den Primärstädten des Kerns zählt und Johannesburg keine Sekundärstadt der Semiperipherie, sondern eine des Kern ist. Warum das Modell der Struktur und Entwicklung der lateinamerikanischen Stadt von Borsdorf, Bähr und Janoschka (Abb. 7.3.3.2/3 auf S. 288) so beharrlich Bestandteil eines Stadtgeographie-Lehrbuches bleiben muss, sollte ebenfalls gelegentlich kritisch hinterfragt werden, zumal eine Kolonialstadt um 1550 ganz bestimmt keine „City“ besaß (der Begriff wird als Synonym für das wirtschaftliche Zentrum einer Stadt allgemein erst zur Mitte des 19. Jh. bedeutsam – einzige Ausnahme London), die um 1920 zum „barrio cerrado“ mutiert (oder hat da jemand in den falschen Farbtopf gelangt?), um 1970 plötzlich wieder eine „City“ zu sein. Jedenfalls handelt es sich hierbei sicher nicht um den „gegenwärtigen Erkenntnisstand“ (siehe S. 291) der Lateinamerikaforschung.
Das Gesamtkonzept betreffend, hätte sich schon bei der Erstausgabe die Frage stellen müssen, ob es angesichts der vom Verlag angestrebten Zweiteilung in Theorie und regionale Empirie wirklich Sinn macht, auch im zweiten Band allgemeinen Ausführungen über die großräumige Gliederung der Erde (Kap. 1), Stadtbegriffe im internationalen Vergleich (Kap. 2) und Verstädterung der Erde (Kap. 3) dermaßen breiten Raum zu geben. Die Ausführungen über die Stadtdefinitionen in der internationalen Statistik sowie zur Ausgliederung von Verdichtungsräumen (S. 27ff.) waren bereits in der ersten Auflage weit vom state-of-the-art entfernt (siehe z.B. die allseits beliebte Verwendung des veralteten BOUSTEDT-Modells, S.30). Hinweise auf neue Konzepte (z.B. Furs) und deren empirische Umsetzung sucht man in diesem Lehrbuch immer noch vergeblich.
Wer sich für die Geschichte der Stadt interessiert, greift wohl besser zum Standardwerk von Benevolo und erspart sich damit u.a. die Mitteilung, eine der ältesten bekannten Städte, Çatal Hüyük, sei ein Cluster gewesen (S. 71), die verkürzte und entstellte (und daher sachlich teilweise falsche) Präsentation der Howardschen Gartenstadtidee (S. 115f.) sowie Neues zum nationalsozialistischen Städtebau (S. 128; in der Tat – nie war die Straßenführung „malerischer“ als bei den Berliner Achsen oder bei den Umbauplänen für Nürnberg, Köln, Linz, etc.).
Manchmal befremdet auch die Auswahl exemplarischer Forschungsergebnisse. Wie ist beispielsweise zu erklären, dass – vor dem internationalen Kontext des Prozesses – ausgerechnet Erfurt als „Modell der Stadt in den Transformationsstaaten“ (S. 158) herangezogen wird, obwohl hier eines der wichtigen Strukturelemente, nämlich der breite Gürtel zwischenkriegszeitlicher Einfamilienhausbebauung, wie er für Prag oder Budapest typisch ist, fehlt? Immerhin spielt dieser Baubestand für die Verteilung der Einkommensklassen im Zuge des Transformationsprozesses nach 1990 keine unwesentliche Rolle (wie wäre es in diesem Kontext mit der Konsultation einer der zahlreichen Publikationen der Wiener Schule der Stadtgeographie zu diesem Thema?).
Angesichts der durchaus noch erweiterbaren Liste formaler und fachwissenschaftlicher Monita kann man einer präsumtiven dritten Auflage der „Stadtgeographie II“ nur eine gründliche Revision wünschen und allen Interessierten raten, diese abzuwarten.
Michaela Paal