Anna M. Wobus, Ulrich Wobus und Benno Parthier (Hg.): Der Begriff der Natur. Wandlungen unseres Naturverständnisses und seine Folgen. Gaterslebener Begegnung 2009. Stuttgart (Nova Acta Leopoldina NF Bd. 109) 2010. 266 S.
Einen Sammelband besprechen zu müssen kann mitunter zu einer zweifelbehafteten Aufgabe werden. Selbst wenn sich alle zu dem Sammelband Beitragenden mehr oder minder an das gemeinsame Oberthema halten („Der Begriff der Natur. Wandlungen unserer Naturverständnisses und seine Folgen“), selbst wenn sicherlich gerade in der Vielfalt verschiedener Zugänge zu einem „gemeinsamen“ Thema ein besonderer Reiz oder gar Gewinn liegen kann, selbst wenn das Thema sogar eines ist, das man in der eigenen Fachcommunity gerne, ja sogar notwendig wieder neu diskutiert sähe, so kann es eben doch dazu kommen, dass man sehr daran zweifelt, ob es sinnvoll ist, diese Community überhaupt auf das Buch aufmerksam zu machen.
Doch zum Glück gibt es die Möglichkeit, die Begründung dieser Zweifel auch in einer kurz zu haltenden Rezension anzureißen. Und zum Glück kann man sich als Rezensentin von der vermeintlichen Verpflichtung freimachen, auf alle Beiträge eines Sammelbandes gleichermaßen eingehen zu müssen, und sich stattdessen auf die wenigen Beiträge des Bandes konzentrieren, die man für der weiteren Auseinandersetzung besonders wert hält.
Zunächst: Bei den „Gaterslebener Begegnungen“ handelt es sich um eine Mitte der 1980er Jahre ins Leben gerufene „Veranstaltungsreihe, auf der Natur- und Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, Politiker und Publizisten Fragen der modernen Naturwissenschaften und ihrer gesellschaftlichen und ethischen Implikationen diskutieren“ (S. 17) sollen. Bei der Begegnung des Jahres 2009, aus der der Band hervorgegangen ist, reicht das Spektrum der Beitragenden von in der Forschung tätigen „reinen“ Naturwissenschaftlern (Randolf Menzel, Neurobiologe und Hans-Hilger Ropers, Humangenetiker), über Biologen, die heute überwiegend auf anderem Gebiet tätig sind (Andreas Weber als Publizist, Kristian Köchy als Philosoph und Reinhard Piechocki im Naturschutz), bis hin zu einem Landschaftsarchitekten (Michael Rohde) und schließlich verschiedenen Geisteswissenschaftlern (dem Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, dem Kunsthistoriker Hans Dickel und den Philosophen Volker Gerhardt und Ludwig Siep). Darüber hinaus enthält der Band einige wenige Fotographien zu den die Tagung begleitenden Kunstausstellungen (von Susanne Berner, Margit Jäschke und Jürgen Ludwig) sowie Transkriptionen der Diskussionen, die nach den jeweiligen Vorträgen der Veranstaltung bzw. im Rahmen ihres „Rundtischgesprächs“ zum Thema „Frieden mit der Natur?“ stattgefunden haben.
Natürlich zeigen sich alle Beitragenden darüber im Bilde (und sprechen z.T. explizit darüber) dass es, je nach historisch-kulturellem Kontext, aber auch innerhalb solcher Kontexte, unterschiedliche Mensch-Natur-Verhältnisse und entsprechende Natur-Verständnisse gibt. Ginge es allein darum, müsste man den Band meines Erachtens nicht lesen: Für die, die sich in dieser Hinsicht bereits etwas auskennen, wird er nicht viel Neues oder Spannendes bieten (abgesehen von Dickels interessanten Ausführungen zum Naturverständnis in der Gegenwartskunst). Und für diejenigen, die sich in dieser Hinsicht vielleicht erstmalig bilden wollen (z.B. Studierende), sind sehr holzschnittartige Überblicke (etwa von Fischer, Köchy oder Piechocki) ja eher eine Gefahr, weil sie unter Umständen den falschen Eindruck vermitteln, man könne durch das Lesen der Beiträge Bescheid wissen.
Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, in dem sich alle Beitragenden einig zu sein scheinen: Darüber, dass es derzeit wieder (neu) nötig ist, das Verhältnis zwischen „Mensch“ und „Natur“ und somit auch den Naturbegriff selbst zu überdenken oder umzubilden. Dies wird immer wieder angesprochen – sei es unter Bezugnahme auf das, was man in aller Kürze eine weiterhin und immer mehr „bedrohte Natur“ nennen kann (Reduktion der Artenvielfalt etc.), oder wegen der neuen Fragen, die sich uns aufgrund der (human-)genetischen Entwicklungen, ihren biotechnologischen Umsetzungsmöglichkeiten und ihren möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen stellen. Die entscheidende Frage in Hinblick auf den Wert der Beiträge scheint mir aber zu sein, wie mit diesem Anspruch umgegangen wird, oder besser: wie er sich vermittelt. Anders gesagt: Die entscheidende Frage ist, wo oder wie dieser Anspruch nicht nur deklariert, sondern in der Gestaltung des eigenen Vortrags eben auch selbst vollzogen wird. In dieser Hinsicht kann nämlich nicht wirklich überzeugen, wenn am Ende eines Beitrags – nach einem historischen Abriss – pauschale Forderungen ausgerufen werden wie: „Konkret gesagt müssen wir aufhören, die Natur als bloße Ressource anzusehen, und anfangen, mehr das Schöne in ihr als das Schadhafte (Naturzerstörung) wahrzunehmen. Wir müssen auch die Zukunft wahrnehmbar machen, die unseren Kindern und Enkeln dieselben Möglichkeiten bieten soll, die uns zur Verfügung standen. Das Konzept der Nachhaltigkeit bietet dazu eine Chance“ (Ernst Peter Fischer: Zur Wahrnehmung von Natur, in: ebd., S. 49–55, hier S. 55). Nicht dass ich Fischer absprechen wollte, persönlich in dieser Sache engagiert zu sein, dies ist er sicherlich. Aber weiter als bisher bringt uns ein solches „Fazit“ nicht.
Deswegen sind für mich die überzeugendsten und lohnenswerten Beiträge des Bandes die, die eben nicht nur auf mehr oder minder altbekannte Argumentationsmuster rekurrieren, und vor allem nicht in irgendeiner Weise die Vorstellung vermitteln, man könne das „neue“ Mensch-Natur-Verhältnis quasi abholfertig irgendwo herbekommen („Wo bekommen wir eine neue Ethik her?“, ebd., S. 233f.), sondern die in dieser Hinsicht selbst, aus ihrer eigenen Situation heraus, etwas wagen und entwerfen. Und somit komme ich auf die beiden Beiträge zu sprechen, die dies in meinen Augen eben auf eine interessante Weise tun: Zum einen ist da der Biologe und Publizist Andreas Weber. Auch wenn ich seine Ausführungen nicht in all ihren Dimensionen teile: Sein Beitrag ist in der Hinsicht herauszuheben, dass er am Beispiel der Biologie auf eine plastische, lebendige, mitunter intuitive Weise zur Darstellung bringt, dass es sich (auch gesellschaftlich!) lohnt, danach zu fragen, ob etablierte Zugangsweisen innerhalb eines Fachs überhaupt stimmig in Bezug auf den eigentlichen „Gegenstand“ bzw. die jeweilige Eigenart eines Fachs sind. Anders gesagt: Er stößt uns darauf, dass ein Fach unter Umständen gar nicht merken könnte, dass ihm das, was es in seiner Eigenart ausmacht und immer wieder neu ausmachen könnte, stillschweigend abhanden gekommen ist, und dass entsprechende Grundfragen zu stellen kein fachinterner Luxus, sondern eine auch in Hinblick auf gesellschaftliche Konsequenzen bestehende Notwendigkeit ist. (Freilich: Dass es Weber darum ging, scheinen zumindest einige der Diskutanten auf der Gaterslebener Veranstaltung nicht verstanden zu haben, wie die Transkriptionen der Diskussionen belegen. Wenn ich gezögert habe, ob es überhaupt sinnvoll ist, die geographische Community auf den Band aufmerksam zu machen, dann u.a. auch, weil die Gefahr besteht, dass sich Leser/innen von dem unangemessenen und trivialisierenden Tenor anstecken lassen könnten, der in den Diskussionen bezüglich des Vortrags von Weber herrschte.)
Zum anderen und eben zu guter Letzt möchte ich den Beitrag von Ludwig Siep („Naturrecht und Bioethik“) empfehlen. Ganz abgesehen von seinem hochinteressanten Inhalt: Von seiner Art und Weise, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, um, eine echte Frage stellend (!), die Möglichkeit eines neuen Mensch-Natur-Verhältnisses auszuloten und zu entwerfen – von dieser Art und Weise kann die Geographie, die nicht (oder kaum) damit vertraut ist, eine genuine geisteswissenschaftliche Kultur zu pflegen, einiges lernen.
Barbara Zahnen
Quelle: Erdkunde, 66. Jahrgang, 2012, Heft 3, S. 267-268
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