Detlef Müller-Mahn (Hg.): The Spatial Dimension of Risk. How Geography Shapes the Emergence of Riskscapes. London 2013. 243 p.
Die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Risiken ist offensichtlich. Zum einen haben sich die von menschlichem Handeln beeinflussten Gefahrenquellen potenziert und neue Dimensionen erreicht, bis hin zum globalen Klima- und Wettergeschehen. Zum anderen ist das Risikomanagement zu einer universalen Strategie gesellschaftlicher Steuerung geworden. Aufgaben der Forschung können sowohl die präzise Bestimmung von Einflussfaktoren und Eintrittswahrscheinlichkeiten solcher vielfältiger Gefahrenquellen sein, aber auch das Offenlegen der Machtwirkungen politischer Strategien, die sich über den Verweis auf Risiken zu legitimieren versuchen. Diese beiden Pole spannen das breite Feld der Risikoforschung auf.
Die Bedeutung räumlicher Kategorien für die Risikoforschung ist allerdings bisher überraschend wenig thematisiert (für eine Ausnahme siehe Pott 2010). Der von Detlef Müller-Mahn herausgegebene Band antwortet somit auf ein Forschungsdesiderat. „Space matters!“ auch in der Auseinandersetzung mit Risiken, das ist die gemeinsame Botschaft der Beiträge des Bandes. „[A]ny meaningful and relevant risk research, communication and management practice needs to take the diversity and multiplicity of risk, space, and riskscapes into account“ (202), so bestimmt der Herausgeber zusammen mit Jonathan Everts und Martin Doevenspeck abschließend selbst das Kondensat. Die Stärke des Bandes liegt in der versammelten Bandbreite. Vor allem wird demonstriert, wie unterschiedlich sich der Konnex der beiden Metakonzepte Raum und Risiko auffassen lässt. So wird thematisiert, inwiefern es einem Risikomanagement zuträglich sein kann, Gefahrenszenarien räumlich differenziert wahrzunehmen (Renn/Klinke, Fuchs/Keiler), inwiefern Individuen Gefahren unterschiedlich antizipieren und in der Folge auch anders verorten (Müller-Mahn/Everts, Korf, Doevenspeck), wie die Semantik von Risiko und Unsicherheit die polizeiliche Kontrolle von Räumen legitimiert (Belina/Miggelbrink), oder wie der Einfluss kolonialer Mächte durch die Beschaffenheit der Landschaft erschwert wird und inwiefern dies eine Strategie der Risikominimierung sein kann (Kreutzmann).
Die Vielfalt wird mit mangelnder begrifflicher Konsistenz bezahlt. Über die Beiträge hinweg und teils innerhalb einzelner Beiträge changiert der Bedeutungsgehalt des Risikobegriffs. Risiko und Gefahr werden oftmals synonym verwendet. Wie Peter Weichhart und Karl-Michael Höferl in dem Band überzeugend argumentieren, hat aber Risiko im Unterschied zu Gefahr sinnvollerweise eine relationale Dimension. Erst durch bestimmte Bezüge wird aus einer Gefahr ein Risiko, „Risiken an und für sich“ unterschlägt das eigentliche Potential des Begriffs. Das Spezifische an „Risiken“ ist es gerade, dass es in bestimmter Weise gesellschaftlich aufgeladene Gefahren sind. Die Verabredung zumindest auf diesen relativ übergreifenden Aspekt hätte den Band konzeptionell schärfer gemacht.
Die Stärke des Bandes ist - wie bereits hervorgehoben - das breite thematische Feld und die unterschiedlichen konzeptionelle Zugriffsweisen auf das Schnittfeld Risiko / Raum. Entsprechend erfolgt die Auseinandersetzung im Folgenden auf der Ebene der Einzelbeiträge.
Ortwin Renn und Andreas Klinke präsentieren reflektierte Thesen, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit Risiken als ein geordneter Prozess ausgestalten lässt (Risk Governance Framework) und ergänzen diese bereits etablierte und bewährte Handreichung um die Reflexion der Rolle von Raum und Zeit. Allerdings ändert sich durch eine räumliche Sensibilität nichts grundlegend an dem Risk Govenance Framework.
Jonathan Everts und Detlef Müller-Mahn schlagen den Begriff Riskscape vor, um auf die notwendige Realisierung von Risikowahrnehmungen auf der Ebene der Praxis zu betonen. Individuen und Gruppen handeln entsprechend einer spezifischen Gefahrenwahrnehmung und projizieren dabei unterschiedliche Riskscapes. Diese sind etwa bei Experten und Bewohnern unterschiedlich für das identische Gebiet. Riskscapes „overlap, interact and often produce conflict“ (35).
Peter Weichhart und Karl-Michael Höferl legen noch einmal anschaulich die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen der komplexen Signifikanten Raum einerseits bzw. Risiko andererseits auseinander. Die anschließend skizzierte Fallstudie zum Wandel des österreichischen Diskurses über den Hochwasserschutz führt an einem Beispiel vor, wie einige der zuvor unterschiedenen Dimensionen von Raum jeweils von unterschiedlichen Akteuren (und zwar nicht immer deckungsgleich) zum Zweck des Hochwassermanagement gestaltet werden. Der Beitrag leistet ein plausibles Plädoyer für die unternommene Differenzierung des Raumbegriffs in der Risikoforschung.
Jürgen Pohl, Swen Zehetmair und Julia Mayer versuchen, die Systemtheorie für den Zusammenhang von Risiko und Raum fruchtbar zu machen. Das Kapitel trägt entsprechendes Material zusammen. So wird eingangs auf den für das politische Risikomanagement problematischen spatial (mis)fit hingewiesen, d. h. die meist fehlende Deckung zwischen dem von einem Naturereignis betroffenen Areal und dem Gebiet einer zuständigen politischen Institution. Knapp werden Grundaussagen Luhmanns Systemtheorie und Raumbegriffe der Geographie referiert. Am Ende unterbleibt jedoch die Engführung. Der behauptete Gewinn einer systemtheoretischen Perspektive auf den Zusammenhang von Raum und Risiko wird zu wenig deutlich, vielleicht auch, weil der Risikobegriff über den Beitrag hinweg mehrfach Unterschiedliches bezeichnet.
Benedikt Korf zeigt in einer empirisch dichten Beschreibung des Konfliktes in Sri Lanka, inwiefern Risiken und Unsicherheit im Alltag der Bewohner_innen nicht zuletzt räumlich differenziert werden. So wie Krieg nicht als eine Situation permanent andauernden Terrors vorzustellen ist, so ist auch die Einschätzung der Orte besonderer Risiken und Unsicherheiten für die Menschen in Sri Lanka unterschiedlich. An einzelnen Beispielen verweist Korf auf solche unterschiedlichen Landschaften der Angst.
Jonathan Everts diskutiert die Figur (gesellschaftlicher) Angst am Beispiel der Schweinegrippe. Gesellschaftliche Ängste funktionieren in weiten Teilen parallel zu Risiken und teilen eine gemeinsame Schnittmenge. Das Konzept der Emotive, in etwa die symbolische Währung kollektiver Ängste, ist geeignet, um dieses dem Risiko benachbarte Phänomen besser zu fassen.
Conrad Schetter ruft in Erinnerung, wie im Zuge zunehmend asymmetrischer Kriege eine bestimmte Strategie der Verräumlichung um sich greift, um militärische Interventionen zu legitimieren. Ein vom US-Militär beauftragter Think Tank hat die Vorstellung "Unregierter Territorien“ geläufig gemacht und dieses Konzept dient derzeit dazu, einen Ausnahmezustand zuzuweisen und zu legitimieren und den Krieg gegen den Terror in die gewohnte territoriale Strategie der Kriegsführung zu übertragen.
Fred Krüger zeigt am Beispiel der landesweiten HIV/AIDS-Therapie in Botswana, inwiefern der individuelle Umgang mit Risiken entscheidend gesellschaftlich vermittelt ist. Ein gelingender Umgang mit dem Risiko HIV/AIDS erfordere von den Infizierten unter anderem die stetige Medikation. Die Bereitschaft zur unbeirrten Verfolgung des Therapieprogramms basiert aber zentral auf Gewohnheiten, sozialen Normen und ist nicht zuletzt von dem jeweiligen sozialen Setting (beispielweise zu Hause oder am Arbeitsplatz) bestimmt. Diese gesellschaftlich vermittelte Bereitschaft und Fähigkeit zum Umgang mit Risiken - hier gefasst als Resilienz - ist also auch räumlich zu differenzieren, wie der Beitrag plausibel macht.
Der Beitrag von Bernd Belina und Judith Miggelbrink richtet das Augenmerk auf ein brisantes Beispiel für den Nexus von Sicherheitsinteressen einerseits und Strategien der Territorialisierung und Verräumlichung andererseits und zwar an den Außengrenzen der EU. Der Beitrag legt offen, inwiefern das Grenz- und Migrationsregime der EU zunehmend in Begriffen von Sicherheit und Risiko artikuliert und dabei quasi entpolitisiert werden. Die 2004 eingerichtete Koordinierungsstelle FRONTEX verkörpert diese Strategie der Versicherheitlichung in besonderer Weise wie Belina und Miggelbrink anschaulich argumentieren.
Martin Doevenspeck zeichnet den Umgang mit Gefahren nah an der Lebenswirklichkeit von Bewohner_innen der Stadt Goma in der Demokratischen Republik Kongo nach. Trotz der von Experten permanent thematisierten Risiken, Lavaströme des nahen Vulkans, im angrenzenden See gelöste Gase, wird im städtischen Alltag stärker die Gefahr nächtlicher Raubüberfälle handlungsrelevant und somit als Risiko begriffen. Doevenspeck plädiert damit für eine Ergänzung der oft technokratischen Risikoanalysen im globalen Süden.
Hermann Kreutzmann präsentiert eine detaillierte Aufarbeitung der Genese von Staatlichkeit im südöstlichen Asien in Form einer Auseinandersetzung mit den kolonialen Prozessen von Grenzziehung und Nation Building. Die Verbindung zum Konnex Raum - Risiko ist dabei etwas bemüht, charmant hingegen die Umkehr der gewohnten Sichtweise auf Staatlichkeit. Im Kontext des Hochlandes von Südostasien (das von Willem Schendel so bezeichnete Zomia) ist die Reduktion von Gefahren oft mit der Vermeidung des Zugriffes der kolonialen Mächte verbunden gewesen. Der Staat war hier gerade nicht Garant von Sicherheit, sondern Quelle von Risiken, und die unzugängliche Morphologie half bei der Risikoreduktion.
Barbara Zahnen spürt dem Moment nach, in dem sich einer Forscher_in ein zuvor verborgener Zusammenhang enthüllt. Am Beispiel so genannter „schleichender Risiken“, allmähliche Zustandsänderungen, die sich zu systemverändernden Kräften aufbauen können, lässt sich dieser „kairos“ verdeutlichen, in dem bloße Datenreihen o. ä. einen neuen Sinn ergeben. Für Zahnen ist eine holistisch verstandene Geographie besonders geeignet, um solche Erkenntnisse zu generieren, die eine Integration und Neubewertungen von Einzelbeobachtungen erfordern.
Sven Fuchs und Margreth Keiler weisen auf die zeitliche und räumliche Variabilität von Gefahrenszenarien hin. Im Alpenraum hat sich etwa mit steigender Besiedelung und schrumpfenden Ausweichflächen das Gebiet beständig vergrößert, in dem Schneelawinen Schaden anrichten können. Zudem variiert die Zahl der anwesenden und potentiell gefährdeten Personen massiv über das Jahr. Solche Erkenntnisse sind sinnvollerweise in Bemühungen des Risikomanagements zu übernehmen.
Zusammen genommen liefert der Band vielfältige Beispiele für eine räumliche Sensibilität in der Risikoforschung und reklamiert dadurch überzeugend Terrain für die Geographie in dem interdisziplinären und weiter an Bedeutung gewinnenden Feld. Gleichwohl vergibt der Band die Chance, einen systematischen (und dann sicherlich streitbaren) Vorschlag für den Zugriff auf die „räumliche Dimension von Risiken“ zu unterbreiten. In jedem Fall eine lohnende Zusammenstellung aktueller Arbeiten.
Literatur
Pott, A. und Egner, H. (2010): Geographische Risikoforschung. Stuttgart: Steiner.
Henning Füller, Erlangen
Geographische Zeitschrift, 101. Jg. 2013, Heft 1, S. 60-62
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