Stephen Gill (Hg.): Global Crises and the Crisis of Global Leadership. Cambridge 2012. 299 S.
Der vorliegende Band ist der umfassendste Diskussionsbeitrag des neogramscianischen Ansatzes zur Krise. Diese wird als »global organic crisis« begriffen, weil sie sich aus »a diversity of intersecting, but nonetheless ontologically distinct, crises« (1) zusammensetzt. Anspruch ist, jenseits von Ökonomismus und aus globaler Perspektive »the fundamental crises of livelihood and social reproduction […] such as the global health, food, energy and ecological crises« (1) in den Blick zu nehmen. Der Pluralität von Krisen wird der Begriff der »global leadership« im Singular gegenübergestellt, was einen »identifiable, neoliberal nexus of ideas, institutions and interests« beschreibt, »that dominates global political and civil society« (1).
Den roten Faden des interdisziplinär angelegten Bands bildet die Frage, wie gegenwärtige Strategien und Akteure einer »global leadership« die Krise hervorbringen und bearbeiten (9), wie sie Legitimität und Konsens organisieren (8), wo und warum sie versagen und welche Herausforderungen daraus für potenzielle »alternative forms of global leadership« (5) erwachsen. In Abgrenzung zu anderen kritischen Theorien globaler Herrschaft rückt der Begriff der »global leadership« die Annahme in den Vordergrund, dass internationale Konflikte und Krisen eine »greater, more institutionalized and geopolitically extensive cooperation among capitalist states« (13f) hervorgebracht hätten. »Global leadership« basiere auf den »historical blocs that have substantial anchorage in the forces of political and civil society across a range of jurisdictions« (14).
Der erste Teil legt die Begriffsgrundlagen. Gill skizziert zwei Krisenkonzeptionen, die den herrschenden Deutungsrahmen der Krisendiskussion abstecken: Während die Krise einerseits als quasimedizinischer Notstand verhandelt wird, der außergewöhnliche
Rettungsmaßnahmen erforderlich mache, werde die Krise andererseits in ein eschatologisches Verständnis des Neoliberalismus als ›Endpunkt der Geschichte‹ eingebettet. Nicola Short charakterisiert in Anlehnung an Gramscis Überlegungen zu autoritärcharismatischer Führung neoliberale Formen der »global leadership« als Versuch, politische Prozesse zunehmend von Partizipationsmöglichkeiten zu entkoppeln, diese in technokratische »goodgovernance«Entscheidungen zu überführen und scheinbar unpolitischen Marktmechanismen zu überlassen. Demgegenüber aktualisiert sie Gramscis »modernen Prinzen«. A. Claire Cutler untersucht mit Gramscis Intellektuellentheorie, wie die Herrschaftsstrategie privatertransnationaler Governance die Autorität ›unpolitischer Experten‹ und die zunehmend obsolete Unterscheidung von ›privat‹ und ›öffentlich‹ nutzen konnte, um eine »neoliberale Marktzivilisation« (56) juristisch zu fixieren und im Alltagsverstand zu verankern.Der zweite Teil des Bands widmet sich der ökologischenergetischen Reproduktionskrise. Tim Di Muzio erweitert Gills Begriff der Marktzivilisation und argumentiert, dass »Peak Oil« und Erderwärmung eine fundamentale soziale Reproduktionskrise der auf fossilen Brennstoffen basierenden »petromarket civilization« markieren. Diese Reproduktionskrise lasse sich innerhalb eines marktgesteuerten und wachstumsorientierten neoliberalen Führungsparadigmas nicht bewältigen. Ausgehend von den drohenden Folgen des Klimawandels beleuchtet Richard A. Falk die Bedeutung des Fehlens eines effizienten intergouvernementalen »global leadership« und setzt sich mit Konsequenzen für Demokratie und menschliche Sicherheit auseinander. Im dritten Teilzu »global leadership ethics« (125) und subalternen Kräften lotet Mustapha Kamal Pasha in Gegnerschaft zum Orientalismusdiskurs die Potentiale einer islamisch inspirierten Kritik globaler wie lokaler Machtverhältnisse aus und erarbeitet daraus ethische Grundzüge für eine alternative postneoliberale Weltordnung. Upendra Baxi lenkt mit dem Begriff »adjucitator leadership« den Fokus auf Recht und Gerichte als Institutionen der »global leadership« und diskutiert die Konflikte zwischen der Durchsetzung von internationalem Wirtschaftsrecht und subalterner Entwürfe öffentlichdeliberativer Entscheidungsverfahren. Im vierten Teil werden alternative Formen der »global leadership« entworfen. Während Teivo Teivainen die Potentiale, Strategien und Organisationsformen transnationaler globalisierungskritischer Bewegungen am Beispiel des Weltsozialforums evaluiert, untersucht Ingar Solty im Licht der »organischen Krise« des Neoliberalismus potentielle rechte wie linke Projekte einer PostNeoliberalisierung im globalen Norden. Entscheidend sei v.a., in welches Klassenbündnis sich die Mittelklassen integrieren lassen. Abgerundet wird der Band durch einen Ausblick Gills auf Austerität, den Widerspruch von Kapital und Ökologie sowie die Krise sozialer Reproduktion. Dabei stellt er die Verbindung zu seinen früheren Arbeiten über den »Neuen Konstitutionalismus« und den »disziplinären Neoliberalismus« her und formuliert strategische Gesichtspunkte für die Linke.
Die Stärke des Bandes liegt in der aktuellen, interdisziplinären und globalen Perspektive auf die Krise, ihre politische Bearbeitung durch die globalen Eliten und alternative Projekte der Subalternen. Die sinnvolle Kombination disziplinärer Ansätze geht jedoch streckenweise zu Lasten der begrifflichen Stringenz. GramsciBegriffe wie »Führung«, »Hegemonie« und »Zivilgesellschaft« verlieren an analytischer Schärfe und kritischem Potential, wenn z.B. Falk der »leadership from above« eine zivilgesellschaftliche »leadership from below« entgegensetzt (106). Der Band ist dennoch ein wichtiger Schritt in Richtung einer kollektiven strategischen Forschungsperspektive für eine plurale und globale Linke.
Etienne Schneider (Berlin)