Jacinta Prunty and Howard B. Clarke: Reading the Maps. A Guide to the Irish Historic Towns Atlas. Dublin 2011. 242 S.
Reading the Maps – das Lesen und Interpretieren der Karten und Pläne des Irischen Historischen Städteatlas (Irish Historic Towns Atlas) – ist eine grundlegende, fachdidaktisch aufgebaute Anleitung zur vielseitigen Nutzung dieses seit 1986 in Lieferungen zu einzelnen Städten in Irland (bisher 23) erscheinenden städtegeschichtlichen Gesamtwerkes (bisher 15 Lieferungen) im Rahmen des seit 1957 verfolgten wissenschaftlichen Projektes der Europäischen Historischen Städteatlanten. Die großformatigen Einzellieferungen der insgesamt 19 beteiligten europäischen Länder mit inzwischen 486 bisher bearbeiteten Städten, die eingeschränkte Verfügbarkeit und Handhabung sowie die konzeptionell quellenorientierte dokumentarische Darstellung der Karten, Texte und auswertenden Belege lässt eine angemessene breitere Nutzung und Zugänglichkeit in erwünschtem Maße nur erschwert zu.
So haben sich zwei der Mitherausgeber des irischen Städteatlas’ nach einem öffentlichen workshop der Royal Irish Academy zur Nutzung und Erschließung des Atlaswerkes die Aufgabe gestellt, auf der Grundlage umfangreicher ausgewählter Kartenausschnitte (insgesamt 176, dazu Bildquellen, Fragestellungen und interpretierende Texte), ein einführendes ’Nutzungshandbuch’ zu erstellen, das in seinem Umfang von 242 Seiten, seinem breit angelegten, aus den Atlanten exemplarisch ausgewählten Anschauungsmaterial wie vor allem auch in seiner ansprechenden Gesamtkonzeption ein Muster und Modell ist, das für das gesamte Werk der europäischen Atlanten und letztlich auch darüber hinaus für den Betrachtungsansatz der historischen Stadtplananalyse Vorbildcharakter hat. Gerade diese allgemeinere Bedeutung rechtfertigt unter weiterführenden Aspekten eine ausführlichere Rezension auch in einer deutschen Fachzeitschrift. Es ist nicht von ungefähr, dass diese Arbeit aus der traditionell beständigen historisch-geographischen Stadtgeschichtsforschung in Irland beigetragen wurde, wie sie auch in England vertreten ist (“urban morphology school“).
Zu Übersichten über den Publikationsstand der Städteatlanten der europäischen Länder, zur Entwicklung der Konzeptionen, zu dem weitgehend standardisierten Kanon jeweils herangezogener Altkarten oder Kartenwerke von Beginn bis ins 19. Jahrhundert, zu Vergleichbarkeit oder eigenständigeren Arbeits- und Darstellungsweisen wie auch zu den nationalen Arbeitskreisen und der das Gesamtprojekt international begleitenden, 1955 gegründeten “International Commission for the History of Towns“, sind bereits zahlreiche verstreute Beiträge erschienen, die Einblicke in den gegebenen Hintergrund des hier erstmalig entworfenen Interpretationswerkes vermitteln (u.a.: Journal of Urban History 22, 1996; Siedlungsforschung 15, 1997; Jahrbuch für Europäische Geschichte 3, 2002; Rheinische Vierteljahrsblätter 69, 2005; Imago Temporis Medium Aevum 2, 2008; Urban Morphology 12/2, 2008; Pro Civitate Austriae 2010). Zum aktuellen Verzeichnis aller erschienenen Atlanten vergleiche: www.ria.ie/Our-Work/Research/IHTA/List-of-European-Historic-Towns-Atlases.aspx.
Das Werk zur Anleitung eines Lesens und zu stadtgeschichtlichen Erkenntnissen führenden Interpretationen der Altkartenausschnitte, der Umzeichnungen wie auch der wissenschaftlich erstellten Kartendarstellungen (aus den bisher 22 bearbeiteten Städten im irischen Atlaswerk) ist in vier thematische Sektionen (A-D) geteilt, die dann auch in sich in drei, fünf, acht und sechs, insgesamt 22 Sachbereiche (Units) nochmals weiter aufgegliedert sind:
A: Zur Konzeption und Aufgabe historischer Stadtplandarstellungen (Perspektiven der Ansicht, Grundriss und Aufriss, Generalisierungen, Symbole zum thematischen Inhalt, Zweck der Anfertigung)
B: Stadtgeschichtliche Information von Plänen, Plananalyse (topographische Entwicklung der Stadt, Kontinuität und Wandel, Lageverhältnisse, entwicklungsgeschichtliche Begrenzungen, historischer Plan und Stadtbild im Vergleich)
C: Leben und Wirtschaften im Bild des Stadtplanes (religiöse Einrichtungen, Verteidigungsfunktionen, Verwaltungseinrichtungen, Handwerk und Handel, Verkehrsanalysen, Bildungsinstitute, Erholung und Freizeit im Stadtbild)
D: Im Stadtbild (Plan) erkennbare Entwicklungsphasen (Klostersiedlungen, wikingerzeitliche Anlagen, normannische Standorte, mittelalterliche Gründungsstädte, Umgestaltungen im 18. Jahrhundert, Wachstum im 19. Jahrhundert).
Der an das Lesen von Stadtplänen heranführende Text ist eng mit dem jeweils ausgewählten nebenstehenden Planausschnitt oder Kartenbild verbunden. Auf dem Weg einer Spurensuche werden Hinweise zur eigenen Beobachtung und Lesart gegeben, mit entsprechenden historischen Einordnungen. Es wird hier grundlegend deutlich, dass die Autoren mit der Karte als historischer Quelle zutiefst vertraut sind und zugleich mit einer didaktisch aufgebauten Vermittlung wesentlicher Erkenntnisse zur topographischen und geographischen Stadtentwicklung. Es ist eine Anleitung und wissenschaftliche Grundlage zum Selbststudium, organisiert durch jeweils drei mal fünf in Kästen ausgewiesenen Sachfragen unter dem Stichwort “test yourself“ (insgesamt 66), zu denen man sich Antworten überlegen oder auch am Planmaterial orientiert erarbeiten kann. In dieser Weise ist der Band auch ein Arbeitsbuch, mit dem Schulungskurse abgehalten werden können. Mit dieser Brücke zu den Atlaswerken selbst ist auch deren Inhalt medial leicht zu erreichen, da das gesamte irische Atlaswerk als erstes der europäischen Atlanten (nunmehr auch das österreichische) auf DVD digital gespeichert vorhanden ist. Die Benutzbarkeit für die Lehre, aber durchaus auch für die Forschung ist damit wesentlich erleichtert. Der Band ist ein “Handwerkszeug“, das die topographische Stadtgeschichtsforschung mit dem Quellenmaterial des Stadtplanes vielseitig erschließt und auch weiteren Kreisen näher bringt.
Das vorgelegte irische Beispiel ist in seiner Grundkonzeption allgemein übertragbar, wenn auch ein nahe liegender Weg hierzu in dem Band nicht angelegt ist. Auch der im Gesamtprojekt immer wieder angemahnte vergleichende Betrachtungsansatz, für den das koordinierte wissenschaftliche Projekt der Städteatlanten eine dokumentarische Basis schafft, aber im konzeptionellen Betrachtungsansatz auch eine Wegleitung sein sollte, findet in den neuen Wegen der Erschließung eine weiterführende Herausforderung, vor allem auf dem Weg zu einer topographisch-analytischen Komparatistik.
Mit dem Werk der Städteatlanten – vor allem der irischen – eng vertraut wie auch mit der Arbeit der historischen Plananalyse, wird von innen her kommend manches vorausgesetzt. Zu wünschen wären eine kurze Darstellung der Grundkonzeption der Atlanten (Kanon der Kartenauswahl u.a.) gewesen, Maßstabsleisten in den Kartenausschnitten, ein Glossar der Fachbegriffe, eine Definition der verschiedenen Quellentypen der Kartendarstellungen (Original/Umzeichnung/erarbeitete historische Darstellung u.a.) wie auch eine Einfügung dieser Arbeit in die gesamteuropäische Atlasarbeit.
Bei den schon durch die thematische Gliederung reichlich gegebenen Sachthemen wären die archäologischen Befunde zum topographischen Bild, Baualterskartierungen, Berufs- und Sozialtopographie sowie auch Einrichtungen im Stadtumland noch zu ergänzen. Bei der Übernahme des im Band wesentlichen alten Karten- und Darstellungsmaterials aus den Quellen bzw. den vorliegenden Atlanten ist die Qualität der auch weitgehend farbigen Darstellungen sehr gut, auch dann fast durchgehend, wenn Verkleinerungen notwendig gewesen sind.
Mit dieser Handreichung für eine Beschäftigung mit vor allem topographischen Stadtentwicklungen auf der Grundlage einer Analyse und Interpretation alter Stadtpläne ist ein vielseitig anregendes, anschauliches und in der Forschung wie auch Vermittlung vorbildliches Werk geschaffen, das eine weite Verbreitung und Beachtung verdient hat, auch und gerade im unmittelbaren Zusammenhang mit dem beachtlichen europäischen Gesamtwerk der historischen Städteatlanten. In diesem Zusammenhang sind auch die aktuellen Bemühungen um eine elektronische Aufbereitung des europäischen Gesamtwerkes wesentlich (workshop Budapest 2012), mit denen vor allem topographische Bezüge in den Plänen wie auch Bezüge vom Textmaterial her leicht greifbar wie auch nach Fragestellungen erschlossen werden sollen. Grundlegende Grenzen sind hier – besonders für vergleichende Betrachtungen – immer noch gesetzt, durch die zum Teil deutlichen Unterschiede der in den Atlanten jeweils herangezogenen Quellen und Pläne wie auch der Betrachtungsansätze der zugehörigen Texte.
Es ist zu wünschen, dass nach dem vorliegenden Muster und dieser Initiative ein ähnliches, international übergreifendes anleitendes Interpretationswerk für die Gesamteinheit der europäischen Städteatlanten erarbeitet wird, was vor allem auch einen weiteren Schritt zu vergleichenden Betrachtungsansätzen und Studien befördern würde.
Dietrich Denecke