Matthias Schmidt: Mensch und Umwelt in Kirgistan. Politische Ökologie im postkolonialen und postsozialistischen Kontext. Stuttgart (Erdkundliches Wissen 153) 2013. 400 S.

Der Publikation liegt die an der Freien Universität Berlin angenommene Habilitationsschrift des Autors zugrunde, der sich im Rahmen eines längerfristigen Forschungsprojektes mit der Entwicklung der südkirgisischen Walnuss- und Wildobstwälder befasste. Diese Detailuntersuchung wird in einen wesentlich weiter gespannten Rahmen eingebettet, der drei theoretische Konzepte aufgreift: die Politische Ökologie, welche gesellschaftliches Umwelthandeln in einen politischen Kontext stellt, die Debatte zum (Post-)Kolonialismus, die dem Verständnis der vorsowjetischen und sowjetischen Zeit dient, sowie die Postsozialismusforschung, die die Analyse eines neuen Zugangs zu Ressourcen ermöglicht, aber die Auffassung ablehnt, dass Transformation ein vorgezeichneter Weg sei.

 

Die Darstellung entwickelt aus der Überlegung, dass jeder bedeutende politische Umbruch einen kulturlandschaftlichen Wandel mit sich bringt, weil sich Raumstrukturen der Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kontext politischen Wandels ebenfalls verändern, die Problemstellung und die leitenden Forschungsfragen. Im ersten Hauptteil wird auf rd. 90 Seiten eine wissenschaftshistorisch begründete Übertragung des Konzeptes der Politischen Ökologie auf postsozialistische Staaten vorgenommen. Damit wird das Verständnis der poststrukturalistischen Politischen Ökologie vorbereitet, für die in der konstruktivistischen Wissenschaftskritik, im Konzept der Ungleichgewichtsökologie, dem Entwicklungsdiskurs, in Umweltnarrativen, in der Problematik der Verschneidung mehrerer Maßstabsebenen, in der Mensch-Umwelt-Dichotomie, in handelnden Umweltbewegungen sowie in der Forderung nach Durchsetzung normativer Ansprüche wesentliche Grundlagen gesehen werden. Methodisch ergibt sich daraus die Kombination eines Mehr-Ebenen-Ansatzes mit dem Akteursansatz, mit politisch-ökonomischer und der ethnographischen Analyse, mit historischer Quellenarbeit, mit Diskursanalyse und Feldarbeit. Diese Aufzählung umreißt die Differenziertheit des Forschungsansatzes und die Grundlagen des Mixes eingesetzter Methoden. Der Autor nimmt von einer Zuordnung zur Transformationsforschung Abstand, obwohl der immanente Vorwurf einer rein teleologischen Ausrichtung dieser Forschungsrichtung nur teilweise gerechtfertigt ist, da die Transformationsforschung schon in den 1990er Jahren stets auch die Rückwirkungen und Folgeprozesse außerhalb der eigentlichen „Transformationsstaaten“ vor Augen hatte. Von Postsozialismus zu sprechen, ist sicher gerechtfertigt, bringt aber einen weiteren „Post“-Begriff in die Debatte. Dennoch sind die Überlegungen zu Transformation, Transition, Postsozialismus und Postkolonialismus wichtige Bausteine im gedanklichen Grundgerüst der Arbeit. Dass damit auch die Frage nach einer kolonialen Vergangenheit Mittelasiens und nach der Zuordnung zu postkolonialen Entwicklungsländern diskutiert wird, versteht sich von selbst. Der äußerst anregende theoretische Teil mündet in eine knappe Schilderung des Untersuchungsraumes, der – dem Konzept der Maßstabsebenen entsprechend – von der mittelasiatischen Großregion über die nationale Ebene Kirgistans bis auf die lokale Ebene der untersuchten Dörfer vorgestellt wird.

Die folgenden drei Hauptkapitel folgen einem chronologischen Prinzip und beleuchten das präsowjetische, sowjetische und postsowjetische Management von Land- und Naturressourcen in Mittelasien, Kirgistan und speziell im Bereich der Walnuss- und Wildobstwälder in der Region um den Hauptuntersuchungsort Arslanbob im südlichen Kirgistan. Diese drei Hauptkapitel sind ähnlich aufgebaut: Sie gehen von den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen in Mittelasien aus und beleuchten dabei insbesondere den russischen Einfluss, konzentrieren sich dann auf Kirgistan, das als eigenständiges politisch-administratives Raumgebilde erst in der frühen Sowjetzeit entsteht, untersuchen die Institutionen, die für das Management der natürlichen Ressourcen zuständig sind und fokussieren schließlich auf lokale Nutzungsformen in den Wäldern. Dabei muss teilweise sehr weit ausgeholt werden, so etwa, wenn die russische Kolonialökonomie diskutiert wird. Die methodische Basis ist für die vorsowjetische Zeit vor allem eine gründliche Auswertung der einschlägigen Literatur, die offizielles Schrifttum, Berichte von Reisenden und jüngere Untersuchungen umfasst.

Während die vorsowjetische Zeit durch koloniale Beziehungen zwischen Russland und Mittelasien charakterisiert ist, wird die sowjetische Zeit durch ökonomische Verflechtungen in einem nach dem Zentrum-Peripherie-Modell angelegten Raum bestimmt. Allerdings halten sich Ressourcennutzung und finanzielle Transfers des Zentrums nicht die Waage, und Mittelasien gerät in eine aus dem System erklärbare nationalwirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau. Wieder wird auch diese Verflechtung von der gesamträumlichen Einordnung auf das Fallbeispiel der Walnuss- und Wildobstwälder heruntergebrochen. Mit zeitlicher Annäherung an die 1970er und 1980er Jahre ist es möglich, Zeitzeugenaussagen einzubinden, die mit der unbedingt erforderlichen kritischen Distanz in den Text einfließen. Forstwirtschaftliche Planungsunterlagen der spätsowjetischen Zeit ermöglichen es, sehr detaillierte Aussagen über die komplizierte institutionelle Seite der Ressourcennutzung zu machen. Dadurch wird die Darstellung der Nutzung der Walnuss- und Wildobstwälder relativ ausführlich, bleibt dabei aber – trotz der Fülle an Detailinformationen – immer anschaulich.

Im letzten Hauptkapitel geht der Text zunächst auf Transformationsphänomene ein, die sich aus der Auflösung der Sowjetunion, der staatlichen Unabhängigkeit Kirgistans und der Einführung der Marktwirtschaft ergeben. Die Schwächung des Staates und seiner Institutionen macht in diesem Kapitel eine Änderung der Blickrichtung auf die Individualhaushalte und ihre Lebensgestaltung sinnvoll. Dies führt zu einer eindrucksvollen Darstellung aktueller Lebenssicherungsstrategien im ländlichen Raum Kirgistans, wobei Haushaltserhebungen sowohl agrar- und forstwirtschaftliche Einkommen als auch außeragrarische Einkommensmöglichkeiten erkennen lassen. Damit wird der Blick nochmals auf Einflüsse gelenkt, die von einer globalen Maßstabsebene mit Deregulierung, Globalisierung und Polarisierung (357ff.) bis auf die Ebene der Individualhaushalte wirken.

In einem knappen zusammenfassenden Schlusskapitel werden die Hauptgedanken der Mensch-Umwelt-Beziehungen in den drei Hauptphasen der Untersuchung zusammengetragen und zu einem Gesamtbild verdichtet, das sich an einer Diskussion der eingangs formulierten Hypothesen orientiert.

Die Arbeit beruht nicht nur auf gründlicher Literaturarbeit und Empirie, sondern auch auf einem klaren theoretischen Konzept, das im einführenden Teil umrissen wird. Transformation soll demnach von den Akteuren her gesehen werden, wobei deren jeweiligen Handlungspotentiale und die Wirkmacht des individuellen Handelns im Vordergrund stehen. Es wird deutlich, dass Begriffe wie Transformation, Strukturwandel usw. von einer eigentlichen sozial bezogenen Analyse eher entfremden statt sie zu fördern. Der Mensch als Akteur und dabei wieder in der Ausübung von Macht als einem Ergebnis von Handeln und Lernen steht im Mittelpunkt.

Eine besondere Stärke der Studie ist die Darstellungsweise, die sich ohne zu großen Theorieballast – trotz der notwendigen Diskussion zum Ansatz der Politischen Ökologie in einem postsozialistischen Kontext – auf den Weg macht, aber Theorie nicht ausklammert. Die empirischen Erhebungen werden theoriegeleitet durchgeführt, wobei die Methodik der qualitativen Sozialforschung für die postsozialistische Zeit genügend Spielraum bietet, sich stets der Forschungssituation anzupassen. Dadurch entsteht eine Studie, die von den Detailschilderungen her spannend zu verfolgen ist, aber nie den weiteren Rahmen außer Acht lässt. Sehr gelungen ist die Art und Weise, wie ein sehr spezieller Gegenstand (Nutzungspotentiale und tatsächliche Nutzung der Walnuss- und Wildostwälder) auf größere strukturelle und soziale Zusammenhänge bezogen wird (Bewertung im politischen Rahmen, Organisation der Wirtschaft des ländlichen Raumes, Arbeitsmarkt usw.). Dies verbindet sich mit einem souveränen Wechsel der Maßstabsebenen (Nation – Region – (Groß-) Betrieb – Haushalt), der systematisch der Konzeption der Arbeit zugrunde liegt. Mit diesem Buch legt der Autor eine gehaltvolle Darstellung vor, deren Bedeutung über den engeren Untersuchungsraum hinausreicht.

Jörg Stadelbauer, Freiburg


Geographische Zeitschrift, 102. Jg. 2014, Heft 1, S. 63-64

 

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