Martin Schneider: Raum – Mensch – Gerechtigkeit, Sozialethische Reflexionen zur Kategorie des Raumes. Paderborn 2012. 726 S.
Das Thema der «Ethik in der Raumplanung» erfährt derzeit eine gewisse Aufwertung. Gleich in mehrere Studiengänge findet es Eingang. Erfreulich, bemerkenswert. So an der Technischen Universität Wien im Lehrgang Raumplanung. Und auch in der Literatur wird die Dimension neu belebt, etwa mit der Frage nach der gerechten Verteilung finanzieller Mittel an unterschiedliche Räume (Ländliche Räume/Metropolitanräume, alte/neue Bundesländer), wie sie von der Hanns Seidel- und der Konrad Adenauer Stiftung aufgeworfen wurde.
Der oben genannte Titel steht über einer hunderte von Seiten umfassenden Dissertation von Martin Schneider. Der präzisierende Untertitel: «Sozialethische Reflexionen zur Kategorie des Raumes» macht die Fragestellung und Verortung des Werkes deutlicher. Um ethische Problemstellungen geht es, gleichzeitig um solche von gesellschaftlicher Relevanz. Eine erstrangige, kritische Frage steht an. Sie betrifft den Raum resp. Räume, das räumliche Geschehen und das Verhalten dazu. Vor allem das letztere.
Bei einem ersten Durchblättern bleibt offen, ob der Raum als solcher, beispielsweise als «Lebensraum», einen ethisch relevanten Wert verkörpert, doch wird bald einmal klar, dass sich der Verfasser betont an die Menschen wendet und deren Verhalten in die Waagschale legt. Allerdings nicht in direkter Fokussierung, sondern in bedachten Überlegungen, ausholend und doch thematisch sauber gegliedert, konzentriert auf den Raum resp. die Räume, die durch Menschen gestaltet und begründet werden. Ein beeindruckendes Opus. Allein das Literaturverzeichnis, eng gedruckt, reicht von Seite 645 bis 726. In vielen Passagen eine referierende Publikation, aber geleitet von einer erhellenden, gut nachvollziehbaren Systematik.
Nach einer Einleitung mit Bezügen zur Theologie – weitgehend zur römisch-katholischen – wendet sich der Autor dem handlungsorientierten Raumbegriff zu, ortet den Menschen als Gestalter von Räumen, sucht dann einen anthropologischen Zugang philosophischer Prägung und konzentriert sich anschliessend auf sozialethische Zugänge mit Schwergewicht auf der raumbezogenen Gerechtigkeit: von der individuellen Freiheit über die Privatsphäre und die Chancengleichheit/soziale Gerechtigkeit bis hin zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Spannend vor allem die Wahrnehmung räumlicher Disparitäten als Probleme der Gerechtigkeit, immer in Auseinandersetzung mit aussagekräftiger Literatur, stets bereichert durch eigene Reflexionen. An Schlüsselstelen taucht übrigens wiederkehrend der Name von Prof. Dr. Markus Vogt (München) auf, der im Arbeitskreis der deutschen Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hannover) zu Ethik der Raumplanung mitgewirkt hatte (siehe dazu Lendi, M.; Hübler, K.-H. (Hrsg.)(2004): Ethik in der Raumplanung, Zugänge und Reflexionen. Hannover: ARL).
Das Ergebnis, soweit man bei sozialethischen, theologisch/philosophisch unterlegten Abhandlungen von einem solchen reden darf, führt den Autor, wenn ich recht folgere, zur Erkenntnis, a) dass der Raum als Räume, die sich ändern und differenziert ausgestalten, neu zu denken ist, b) dass diese durch Menschen gestaltet/konstituiert werden, c) dass sich mit Räumen Erfahrungen und normative Perspektiven/Ordnungsfragen verbinden, d) dass individuelle und soziale Ungleichheiten auftreten, e) dass sich Freiheitsfragen und Gerechtigkeitsforderungen stellen und dass sich f) die Entschlüsselung der empirischen und normativen Befunde als sozialethische Herausforderung präsentiert.
Eine interessante Feststellung, die vor allem Raumplaner anspricht, findet sich am Schluss. Der Blick auf die Konstitution von politischen Räumen werde an einem Aspekt nicht vorbeikommen: «Nicht nur das, was sich in einem Raum abspielt, verändert sich, sondern die Räume selbst sind es, die sich ändern.» Der globale Entgrenzungsprozess bedeute nicht ein Ende des Raumes, sondern eine permanente Konstitution von Räumen.
Der wahre Gewinn dieser Publikation liegt in der Auseinandersetzung mit der breit einbezogenen Literatur von beeindruckender Vielseitigkeit und der erarbeiteten Systematik von Evidenz – ein anregendes Denkgerüst. Just dieses, selbst mit Ausweitungen bis hin zum Internet als «Raum», regt an. Mancher Leser, mit Einschluss des Verfassers dieser Ankündigung, wird sich fragen, ob in allen Teilen die wirklich massgebenden, gewichteten Quellen in allen Teilen berücksichtigt worden sind. So wirkt die Konsultation der Literatur zur Raumforschung und zur Raumplanung etwas zufällig. Doch steht fest, dass wir es hier mit einem Werk zu tun haben, auf das eingetreten werden muss, weil es Raum und sozialethische Problemstellung in direktem Bezug angeht.
Angekündigt ist vom gleichen Autor eine Publikation «Raum-Ethik als Basistheorie der Umweltethik». Hier wird wohl konkretisierend jene Lücke geschlossen, die beim hier besprochenen Werk gewittert werden darf, nämlich ein gewisses Defizit an Realbezügen, etwa zu Recht und Politik der Raumplanung.
Für einen Rezensenten eine beinahe unüberwindbare Hürde: Wie soll man einem solch reichhaltigen Werk gerecht werden? Und doch – ein wirklich lesenswertes Buch, vielleicht nicht in einem Zug zu meistern, aber zu entdecken als eine immense Fundstelle der so dringend nötigen Gedankenbereicherung, der nicht nur Sozialethiker, sondern auch Raumplaner und mit ihnen sich unterwegs fühlende Juristen, Ökonomen, Architekten, Geographen usw. auf der Spur sind.
Martin Lendi, Zürich/Küsnacht