Johannes M. Becker und Gert Sommer (Hg.): Der Libyen-Krieg. Das Öl und die „Verantwortung zu schützen“. 282 S. Berlin (Schriftenreihe zur Konfliktforschung 26) 2012.
Wissenschaftliche Einordnungen des Libyen-Konfliktes sind ausgesprochen schwierig. Zu neu und zu subjektiv sind noch die Eindrücke, zu unsicher sind sich viele in der Einordnung der Rolle der Medien und ihrer Berichterstattung über die Revolution in Libyen und zu wenig war allgemein bekannt über die vorrevolutionären Entwicklungsbedingungen in diesem Land. Der vorliegende Band setzt daher einen besonders wichtigen Meilenstein in der Auseinandersetzung mit den strukturellen Hintergründen eines Konfliktes, dessen Aufarbeitung gerade erst am Anfang steht.
Es ist besonders bewundernswert, in welch kurzer Zeit es der Marburger Arbeitsgruppe der Friedens- und Konfliktforschung um Johannes M. Becker gelungen ist, ein kompetentes, multidisziplinäres Autoren-Team zusammengestellt und den Sammelband realisiert zu haben. Die Gesamtthematik orientiert sich dabei zwar auch an einer Vortragsreihe, die 2012 im Rahmen einer Ringvorlesung der Marburger Friedens- und Konfliktforschung abgehalten wurde; der Band gewinnt jedoch wesentlich dadurch, dass nicht alle Beiträge, die dort zum Thema Libyen präsentiert wurden, auch in schriftlicher Form vertreten sind. Glücklicherweise bleibt daher der mehr als peinliche, mit Unrichtigkeiten gespickte und überraschender Weise deftige anti-semitische Äußerungen enthaltende Auftritt Robert Galtungs einer Leserschaft erspart. Der Konfliktforschungsband legt hingegen profunde Grundlagen aufbauend auf einer kurzen, aber aussagekräftigen jüngeren Geschichte Libyens (O. Demny) und dann einer schonungslosen Motivationsanalyse westlicher Kriegseintrittsbefürworter bei einer gleichzeitig kritischen Analyse der vielbeschworenen „Responsibility to protect“ (J. M. Becker, G. Sommer, D. Stroop) und der Behandlung der Rollen von NATO und EU (J. Wagner).
Zu den besonders wichtigen Kapiteln des Sammelbandes gehören die schonungslose Dekonstruktionen von Jürgen Wagner und von Uli Cremer, die ausgehend von der These, dass es weniger um den Einsatz für humanitäre Ziele oder den Zugang zu Erdölressourcen und sogar eigentlich auch gar nicht um Libyen gegangen sei, sondern vielmehr um die Frage der Machtkonstellation in Europa und die Konkurrenzen zwischen Frankreich und Deutschland. Auch wenn vielleicht nicht jeder andere Analyst die Energieversorgungsfrage derart stark marginalisiert hätte, so bergen gerade diese Beiträge wichtige Hinweise auf Informationen, die nicht immer nur ausschließlich zu den gern und häufig veröffentlichten Nachrichten gehören. Konsequent unternimmt daher Johannes M. Becker einen kritischen Blick auf die Medienberichterstattung, die am Beispiel der sog. Arabellion in Libyen eine Fülle an Zündstoff offenbart und dazu führt, dass man spätestens nach der Lektüre des Textes von Becker fortan die Inhalte von Nachrichtenmeldungen nicht mehr so vertrauensvoll und unhinterfragt entgegennimmt, wie dies ggf. vorher noch der Fall gewesen sein mag.
Dass mit dem Ende des Ghaddafi-Regimes längst nicht alle Probleme Libyens gelöst sind, belegen die Beiträge zum Demobilisierungsgebot (H. Wulf) und zur Problematik des Kunst- und Kulturraubes in einem neuen (fast) rechtsfreien Raum (C. Kleinwächter). Das Kompendium der überwiegend retrospektiv ausgerichteten Kapitel des Bandes lässt lediglich Beiträge zu den Zukunftsszenarien des Landes vermissen. Dass Libyen angesichts einer relativ geringen Gesamtbevölkerung von nur etwa 6,3 Millionen Menschen, einer gesicherten Wasserversorgung für noch mindestens 5 Jahrzehnte und Erdölressourcen, die sogar noch länger reichen dürften, ausgesprochen günstige Entwicklungsvoraussetzungen hat, könnte ein Folgeband thematisieren, nachdem mit dem jetzt vorgelegten Werk eine hervorragende Grundlage geschaffen wurde.
Andreas Dittmann
Quelle: Erdkunde, 67. Jahrgang, 2013, Heft 1, S. 106
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