Rita Schäfer: Südafrika: Zustand der Nation
Gilbert Khadiagala, Prishani Naidoo, Devan Pillay & Roger Southall (Hg.): New South African Review 4. A Fragile Democracy – 20 Years on. Johannesburg 2014. 378 S.
Thenjiwe Meyiwa, Muxe Nkondo, Margaret Chitiga-Mabugu, Moses Sithole & Francis Nyamnjoh (Hg.): State of the Nation 2014. South Africa 1994-2014: A Twenty-Year Review of Freedom and Democracy. Cape Town 2014. 524 S.
2014 war ein Jahr, um die demokratische Entwicklung in Südafrika zu bilanzieren. Im Dezember 2013 starb Nelson Mandela, die Ikone des Widerstands gegen das Apartheidregime und gleichzeitig der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes. Zudem fanden im Mai 2014 nationale Wahlen statt. Die Regierungspartei African National Congress (ANC) war im Vorfeld von Skandalen erschüttert und Präsident Jacob Zuma geriet wegen gravierender Korruption in die Kritik. Zwar wurde er im Amt bestätigt und der ANC setzte seine Alleinherrschaft fort, doch sowohl im Parlament als auch in Auseinandersetzungen der Regierenden mit der außerparlamentarischen Opposition eskalieren seitdem Konflikte über strukturelle Korruption und Patronage, die das Wirtschaftswachstum Südafrikas inzwischen drastisch gesenkt haben.
Von diesen Zusammenhängen handeln die zwei Bücher zur Bestandsaufnahme der neueren Entwicklungen im Land. Sie bauen auf frühere Publikationen zur Lage der Nation auf, die die beiden renommierten Verlage seit Jahren regelmäßig herausgeben. So analysieren die insgesamt 29 Artikel des Sammelbands State of the Nation die Themenschwerpunkte Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Gesundheit und Umwelt sowie Südafrikas Stellung in der Welt durchweg kritisch. Als Autor_innen wirken Wissenschaftler_innen des Human Sciences Research Council (HSRC) und verschiedener Universitäten mit. Auch einige Experten_innen unabhängiger Forschungsinstitute und Nichtregierungsorganisationen kommen zu Wort. Das gesamte Buch ist interdisziplinär angelegt; zahlreiche Texte sind von mehreren Autor_innen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft geschrieben. Damit spiegelt der fundierte Band sowohl die personellen und institutionellen Veränderungen in der akademischen Welt Südafrikas als auch das dortige hohe Wissenschaftsniveau wider. Das illustrieren folgende Beiträge aus den jeweiligen Themenkomplexen exemplarisch.
Zur politischen Entwicklung ist die Analyse von Mukelani Dimba, dem Geschäftsführer des Open Democracy Advice Centre, besonders aufschlussreich. Er veranschaulicht die Einschnitte im Recht auf Information durch neuere Gesetzesreformen, die teilweise auf repressive Gesetzesgrundlagen des Apartheidregimes Bezug nehmen und gleichzeitig die gezielte Ausrichtung der Zuma-Regierung auf Sicherheitsinteressen zum Ausdruck bringen. Auch die Kategorisierung immer mehr öffentlicher und privater Gebäude als Sicherheitsobjekte geht in diese Richtung. Dimba gibt zu bedenken, dass die immer stärkere Geheimhaltung, die von der Regierung als Beitrag zur nationalen Sicherheit ausgegeben wird, in eklatantem Widerspruch zum verfassungsmäßig verankerten Recht auf Information steht.
Hinsichtlich der Ökonomie zeigt die Wirtschaftswissenschaftlerin Nicoli Nattrass von der Universität Kapstadt auf, wie die Ausrichtung auf die kapitalintensive Produktion im Rahmen des nationalen Entwicklungsplans arbeitsintensive Unternehmen beeinträchtigt. Die negativen Folgen für den Arbeitsmarkt belegt sie am Beispiel der Textilindustrie, in der zahlreiche Arbeitsplätze zerstört wurden. So bleibt es fraglich, woher die neuen Jobs kommen sollen, die der nationale Entwicklungsplan anstrebt.
Als eine Ursache für die weit verbreitete Arbeitslosigkeit von Jugendlichen gilt der Bildungsmangel. Mit dem Zugang und der Qualität der Schulbildung befasst sich die Johannesburger Bildungswissenschaftlerin Shireen Motala. Sie zieht zeitliche Längsschnitte der Bildungsreformen seit 1994. Deren Ziel war Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Schüler_innen unabhängig von ihrer Herkunft und Hautfarbe. Insgesamt stiegen Bildungsausgaben und Einschulungsraten. Motala beschreibt Veränderungen der Bildungsinhalte und unterstreicht, wie notwendig weitere institutionelle Reformen und Verhaltensänderungen der Lehrkräfte sind, um die Bildungsqualität zu verbessern.
Die Situation von Kindern untersuchen Chris Desmond und Linda Richter von HSRC. Sie erläutern die Problemsituation von Minderjährigen, die in Folge von HIV/AIDS bereits eigenständig Haushalte leiten und jüngere Geschwister versorgen müssen. Neben gesundheitlichen und emotionalen Schwierigkeiten müssen diese Kinder auch noch häufiger als erwachsene Haushaltsvorstände Armut und Ernährungsmangel bewältigen. Unter Bezug auf die in der Verfassung verankerten Kinderrechte reflektieren Desmond und Richter darüber, was dies für die Verantwortung des Staates bedeutet.
Den Bogen zwischen Problemen wie Armut und sozialen Spannungen sowie Südafrikas Rolle auf dem Kontinent spannen Francis Nyamnjoh und Katleho Shoro von der University of Cape Town. Sie erörtern Kontroversen über die Vision der African Renaissance unter dem früheren Präsidenten Thabo Mbeki und die Bedeutung des Pan-Afrikanismus in Zeiten von Ausländerfeindlichkeit gegenüber Flüchtlingen aus anderen afrikanischen Ländern. Dabei weisen sie auf nicht aufgearbeitete ideologische und machtpolitische Konflikte zwischen dem ANC und der Black-Consciousness-Bewegung hin, die pan-afrikanistische Positionen vertrat. Somit bietet dieser Sammelband analytisch fundierte und lesenswerte Artikel über zentrale Themen, die im heutigen Südafrika für Diskussionen sorgen.
Das gilt auch für das Überblickswerk New South African Review 4, das wie seine erkenntnisreichen Vorgänger von Soziologen und Politologen der Witwatersrand-Universität in Johannesburg herausgegeben wird. In insgesamt neunzehn Aufsätzen, die in vier Kapitel aufgeteilt sind, widmen sich Wissenschaftler_innen dieser Universität und einige Forscher_innen aus Kapstadt und Durban wirtschafts- und außenpolitischen Fragen. Hinzu kommen arbeitsrechtliche, industrielle, ökologische und gesellschaftliche Themen. Auch aus diesem breiten Spektrum sollen im Folgenden einige Beiträge vorgestellt werden, die exemplarisch sind für die große Bandbreite und analytische Tiefenschärfe des Buches. Alle Autor_innen arbeiten an der Witwatersrand-Universität.
Im ersten Kapitel zu Ökologie, Ökonomie und Industrieentwicklung geht es um die unzureichende Stromversorgung, die Abhängigkeit Südafrikas vom Öl und Situationsanalysen der Gewerkschaften. Anschaulich erklären Nicolas Pons-Vignon und Miriam Di Paola die Paradoxien des Erfolgs von Arbeitskämpfen: So gelang es den Gewerkschaftsverbänden, Mindestlöhne für ganz unterschiedliche Branchen und Berufsgruppen durchzusetzen und das Arbeitsrecht grundlegend zu reformieren. Allerdings stieg gleichzeitig die Zahl der Arbeitslosen, die keine Perspektive haben, jemals einen Job im formellen Sektor zu finden. Sie sind zu schlecht ausgebildet. Zudem ist die gesamte Industrie von der arbeitsintensiven Beschäftigung abgerückt. Hierdurch steigt auch die sozio-ökonomische Ungleichheit.
Machtpolitik steht im Brennpunkt des zweiten Kapitels: Hier beleuchten mehrere Autor_innen die Ausrichtung der Regierung auf Sicherheit. Gleichzeitig zeigen sie die Paradoxien dieser Entwicklung auf, zumal die Bedrohung für sozial marginalisierte Personengruppen, etwa für schwarze Lesben, gestiegen ist. Zentrales Thema in diesem Kapitel ist der mutige Widerstand lokaler Gemeinden gegen Minenprojekte und Bauvorhaben. So illustrieren Aninka Claassens und Boitumelo Matlala, wie die Bakgatla ba Kgafela vor dem Gericht der Provinz Nord-West prozessierten, um ihre Rechte gegenüber der Platinindustrie durchzusetzen, die mit ANC-nahen Unternehmern Interessenallianzen bildete. Lokale Vertreter versuchten, Gesetze zur politischen Vertretung traditioneller Autoritäten zu nutzen. Allerdings verschärften Korruption, juristische Verfahrensfragen, unterschiedliche Interpretationen des traditionellen Rechts und der Urteile lokalpolitische Konflikte.
Das Kapitel über die Umsetzung politischer Vorgaben widmet sich unterschiedlichen Institutionen: Schulen, Gefängnissen und privaten Haushalten. Die Soziologin Sarah Mosoetsa vertritt die These, die Demokratie habe nicht zur wirtschaftlichen Emanzipation geführt. Arbeitslosigkeit und Armut hätten Geschlechter- und Generationenkonflikte zur Folge. Vor allem in Haushalten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit wirkten sich der Jobverlust von Männern, die als Wanderarbeiter tätig sind, und mangelnde ökonomische Perspektiven der Frauen negativ aus. Während arme Haushaltsleiterinnen staatliche Sozialleistungen für sich und ihre Kinder beantragen können, belasten Statusprobleme und veränderte Maskulinitätsvorstellungen arbeitslose Männer – so Mosoetsa. Dabei strebt die Regierung offiziell die Gleichstellung der Geschlechter an.
Im Kapitel über die Außenpolitik zeigt Mopeli Moshoeshoe grundlegende Schwierigkeiten, die Südafrikas Führungsanspruch auf dem Kontinent betreffen. Anhand zeitlicher Rückblenden und mit Hinweisen auf Südafrikas verteidigungs- und handelspolitische Rolle innerhalb der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika belegt der Politologe, wie Südafrikas Dominanz eine größere regionale Integration verhindert hat. Dazu referiert er unterschiedliche Interpretationen von Fachkollegen und weist auf innenpolitische Faktoren in Südafrika hin, etwa auf mehrfach veränderte Zielsetzungen der Wirtschaftspolitik seit den 1990er Jahren.
Insgesamt bietet auch dieser Sammelband mit fundierten Analysen und interdisziplinären Perspektiven kenntnis- und faktenreiche Erklärungen für aktuelle Probleme des Landes. Beide Bücher seien allen, die sich über gegenwärtige Strukturprobleme und Forschungstrends am Kap der guten Hoffnung informieren wollen, zur Lektüre empfohlen.
PERIPHERIE Nr. 140, 35. Jg. 2015, S. 525-528
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