Julia Verne: Living translocality. Space, Culture and Economy in Contemporary Swahili Trade. Stuttgart 2012. 262 S.
Im Fokus der vorliegenden Arbeit von Julia Verne steht die Frage, wie ein translokaler Lebensraum in und durch handelsbezogene Mobilitätspraktiken produziert, erfahren und erlebt wird. Durch vertiefte ethnographische Einsichten und „dichte Beschreibung“ (Geertz, 1983, 10) zielt die Arbeit darauf ab, ein bisher oft eher theoretisch konzipiertes Verständnis von Translokalität empirisch zu präzisieren und zu erweitern. Am konkreten Beispiel swahilischer Händler und ihrer Handelsreisen wird gezeigt, wie sich unterschiedliche Formen von Mobilität auf die individuelle Erfahrung und Wahrnehmung von Raum ebenso auswirken wie auf Gefühle von Beheimatung und Zugehörigkeit.
Verortet in der Geographie ebenso wie in der Ethnologie, in der Mobilitätsforschung ebenso wie in den „Swahili studies“, trägt die Arbeit zu einem erneuerten Verständnis der Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Kultur bei. Eindrücklich wird dargestellt, wie kulturelle Werte und Handelspraktiken sich wechselseitig bedingen. Hierdurch wird erstmals überzeugend erläutert, warum Handel und Mobilität bis heute als zentrale Bestandteile einer „swahilischen“ Kultur und Identität angesehen werden. „Living translocality“ liefert somit nicht nur fundierte, sondern auch sehr breit gefächerte Erkenntnisgewinne, von denen Wirtschafts- und Kulturgeographie ebenso profitieren können wie die geographische Migrations- oder Entwicklungsforschung. Darüber hinaus ist das Buch aber auch all jenen zu empfehlen, die sich ganz allgemein für ein innovatives und relationales Verständnis von „space“ und „place“ interessieren.
Die außergewöhnlich ansprechend, präzise und lebendig formulierte Dissertationsschrift ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil liefert unter dem Titel „Arrangements“ eine kompakte Einführung in den Begriff der Translokalität. Zweitens wird der gewählte empirische Ansatz einer mobilen Ethnographie ausführlich dargestellt und begründet. Die Erkenntnisse aus den insgesamt 14-monatigen Forschungsreisen nach Ostafrika, Dubai und London werden im Hauptteil der Arbeit entlang von vier Arten von Handelsrouten und Mobilitätspraktiken vorgestellt. Diese reichen von eher kleinräumigen Aktionsräumen von Kleinhändlern in Dar-as-Salam über binnennationale und transnationale Handelsreisen bis hin zu interkontinentalem Handel und Migrationsphänomenen. In dieser Vielfalt und Spannweite der begleiteten Handelswege liegt eine besondere Stärke der Arbeit. So wird anhand der konkreten Beispiele nicht nur Vernes eindrückliches Plädoyer für ein genuin relationales und prozessorientiertes Verständnis von Netzwerken als „Rhizom“ (Deleuze und Guattari, 1976) sehr gut nachvollziehbar. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Arten und Skalen von Mobilität, sowie ihr tiefes und fundiertes „Eintauchen in das Feld“ gelingt es der swahili-sprachigen Autorin darüber hinaus erstmals, das von Pries entwickelte Konzept transnationaler Sozialräume auch aus kulturgeographischer Perspektive überzeugend zu reformulieren.
Mag zunächst erstaunen, dass die Auseinandersetzung mit diesem Konzept ebenso wie mit dem „spatial turn“ erst am Ende der Arbeit erfolgt, so erscheint dies jedoch angesichts des erkenntnistheoretischen Anspruchs der Arbeit mehr als folgerichtig. So soll nach Verne eine „ethnologisch informierte Ethnographie“ (2012, 192) primär an den empirischen Erkenntnissen des Feldes ansetzen, um von hier aus die als „Beirrung“ verstandenen theoretischen Konzepte zu erweitern und gegebenenfalls zu revidieren. Dieser Anspruch wird im Schlusskapitel der Arbeit sehr souverän eingelöst. „Enmeshments“ präsentiert ein empirisch fundiertes und theoretisch überzeugend hergeleitetes Verständnis von Translokalität als „way of being in the world“ (S. 19) ebenso wie ein erneuertes Verständnis von Raum als „enmeshment of entangled lines [which] does not have to be thought of as being beyond the metric“ (S. 234).
Insgesamt zeichnet sich diese Arbeit durch ihre enge Verflechtung von empirischen Erkenntnissen und theoretischkonzeptionellen Erwägungen aus. Methodisch innovativ und inspirierend, trägt die Monografie auch durch die kenntnisreiche Aufarbeitung und Verknüpfung von englisch- und deutschsprachiger Literatur aus Ethnologie und Geographie zu einer Weiterentwicklung des Forschungsfeldes bei. Dem etwas stärkeren Fokus auf englischsprachige Quellen sowie der sehr konzisen Formgebung mag geschuldet sein, dass an einigen Stellen die Auseinandersetzung mit bereits vorliegenden deutschsprachigen Arbeiten zur Migrations- und Netzwerkforschung etwas zu kurz kommt. Hier ist zu hoffen, dass eine breite Rezeption dieser lesenswerten Arbeit zu einer stärkeren Verknüpfung und kritischen Diskussion dieser sowohl komplementären als auch konträren Forschungsansätze beitragen wird.
Literatur
Deleuze, G. und Guattari, F.: Rhizome, Paris, Minuit, 1976.
Geertz, C.: Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt, Suhrkamp 1983.
Verne, J.: Ethnographie und ihre Folgen für die Kulturgeographie: eine Kritik des Netzwerkkonzepts in Studien zu translokaler Mobilität, Geogr. Helv., 67, 185–194, doi:10.5194/gh-67-185-2012, 2012.
Maike Didero
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Quelle:
Geogr. Helv., 68, 223–224, 2013
www.geogr-helv.net/68/223/2013/
doi:10.5194/gh-68-223-2013
© Author(s) 2013. CC Attribution 3.0 License
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