Nalini Visvanathan, Lynn Duggan, Nan Wiegersma und Laurie Nisonoff (Hg.): The Women, Gender and Development Reader. London 2011. 2. Auflage, 455 S.
Dieser Sammelband ist eine komplett überarbeitete, aktualisierte und um neue Artikel ergänzte Neuauflage des Standardwerks von 1997, das von WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen in gleicher Weise gerühmt wurde. Er bietet den LeserInnen eine facettenreiche Übersicht des breiten Themenspektrums zu Gender und Entwicklung. Die Schwerpunkte und Fragestellungen wurden in den letzten Jahren ausdifferenziert und erweitert. Daher greift das umfangreiche Buch auch aktuelle Probleme der globalen Ökonomie, internationalen Migration, Folgen des Klimawandels und die Auswirkungen von HIV/ AIDS auf.
Es umfasst vierundvierzig Beiträge, die in fünf Themenblöcke untergliedert sind. Im ersten, mit fünfzehn Texten umfangreichsten Teil geht es um die Geschichte und die theoretischen Ansätze zu Gender in der internationalen Entwicklungsforschung. Dabei werden neben wirtschaftlichen Grundüberlegungen, friedenspolitische, religiöse und gesundheitsbezogene Aspekte diskutiert. Demgegenüber widmet sich der zweite Teil in sechs Beiträgen Haushalten, Familien und Arbeitsbereichen von Frauen. Die Autorinnen erörtern die Diskriminierungsmechanismen gegenüber Ehefrauen und Töchtern und fragen nach der Verantwortung von Männern im Rahmen sozialer Vaterschaft. Der dritte Teil nimmt Frauen in der globalen Ökonomie in den Blick. In ebenfalls sechs Aufsätzen werden Fallstudien zur internationalen Arbeitsteilung am Beispiel der Fabrikarbeit und der Care-Ökonomie vorgestellt. Die neun Artikel des vierten Teils untersuchen gesellschaftliche Veränderungen mit Bezug auf internationale Transformationsprozesse, bevor die Autorinnen der acht Artikel im fünften Teil die Selbstorganisation von Frauen in lokalen und transnationalen Organisationen oder Bewegungen analysieren.
Aus jedem Teil wird hier exemplarisch ein Aufsatz vorgestellt, der das große Spektrum des Sammelbands illustriert. Shirin Rai zeigt in ihrem informativen und ansprechend geschriebenen Text die internationalen politischen und ideologischen Debatten auf, in denen die Trendwende von den „Women in Development“- zu den „Gender and Development“-Ansätzen während der 1980er Jahre stattfand. Sie geht auch auf postmoderne feministische und strukturalistische Kritik an der Entwicklungspolitik ein, denn grundlegende Machtbeziehungen auf unterschiedlichen Ebenen und in Institutionen hätten bislang verhindert, dass Geschlechterhierarchien überwunden werden.
Der Frage, wie soziale Vaterschaft in Botswana definiert wird, widmet sich Kavita Datta. Sie untersucht, wie Männer sich gegenüber den Kindern in ihren Familien verhalten, je nachdem, ob sie von ihnen selbst oder von anderen Männern gezeugt wurden. Dabei stellt sie das Familienrecht, die familiären Probleme durch HIV/AIDS sowie die gesellschaftliche Definition von sozialer Verantwortung in Rechnung. Sie illustriert anschaulich, dass Männer flexibel mit Normen und Rollenerwartungen umgehen, und legt dar, wie das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen im Lebenszyklus sowie unter Bezug auf die jeweilige Familienkonstellation variiert.
Jean Pyle beleuchtet die vielschichtigen sozio-ökonomischen Hierarchien und geschlechtsspezifischen Diskriminierungen in Folge transnationaler Migration. Sie konzentriert sich auf Frauen aus den Philippinen, die in Honkong, Singapur und Malaysia als Krankenschwestern oder Hausangestellte arbeiten. Dabei untersucht sie nicht nur die Ausbeutungsverhältnisse, mit denen die Migrantinnen konfrontiert werden. Vielmehr beachtet sie auch die familiären Umbrüche in den Herkunftsgesellschaften, etwa die Schwierigkeiten der Kinder, die von Verwandten unzureichend versorgt werden, oder die Identitätsprobleme der Ehemänner, die vom Lohn der Frauen abhängig werden und sich als Männer wertlos fühlen. Zur Überwindung der mannigfaltigen Strukturprobleme und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Fehlverhalten von Regierungen verlangt sie grundlegende Reformen der arbeitsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene.
Friedensorganisationen, die Frauen in afrikanischen Ländern gründeten, stellt der Beitrag von Aili Maria Tripp, Isabel Casimiro, Joy Kwesiga und Alice Mungwa vor. Die Autorinnen gehen insbesondere auf deren Handlungsansätze und Grenzen in Uganda, Mosambik und Liberia ein. Dadurch verdeutlichen sie die komplexen Verbindungen zwischen Friedens- und Entwicklungsprozessen. Zudem skizzieren sie die Bemühungen von Friedensaktivistinnen, tragfähige überregionale Netzwerke zu gründen und innerhalb der Afrikanischen Union friedenspolitische Ziele von Frauen zu verankern. Dabei stellen die Autorinnen Bezüge zu internationalen Abkommen her und reflktieren, inwieweit diese die politische Lobbyarbeit der Friedensaktivistinnen erleichtern.
Der Text von Annette Aurélie Desmarais untersucht die Mitwirkung von Frauen in der internationalen Bauernbewegung La Via Campesina. Diesem Netzwerk, das die neoliberale Agrarpolitik und die Industrialisierung der Landwirtschaft kritisiert, gehören inzwischen über 140 Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern aus Afrika, Asien und Lateinamerika an. Obwohl Frauen mindestens 20 % der Mitglieder stellen, waren sie bis 1996 in den Gremien und im Vorstand kaum vertreten. Schließlich gründeten sie auf der zweiten internationalen Konferenz in Mexiko 1996 eine Arbeitsgruppe, die eine Frauenkommission aufbaute. Sie setzte sich mit Geschlechterdiskriminierungen in den jeweiligen kleinbäuerlichen Gesellschaften und in ihren Organisationen auseinander. Zu ihren Erfolgen zählt die höhere Repräsentanz von Frauen in den Entscheidungsgremien und die Anerkennung von häuslicher Gewalt als ein Strukturproblem in vielen ländlichen Gesellschaften, das ebenso überwunden werden muss wie die neoliberale Ökonomie. Die Autorin weist abschließend auf die Schwierigkeit hin, solche Forderungen in die Praxis umzusetzen, weil Einstellungs- und Verhaltensänderungen im Geschlechterverhältnis sehr langwierig und konfliktreich seien.
Insgesamt bietet der Sammelband eine informative und gut lesbare Palette an Beiträgen zu Gender und Entwicklung. Er dürfte als Handbuch nicht nur für Studierende oder DozentInnen von Interesse sein, sondern auch für PraktikerInnen, zumal bekanntlich etliche staatliche und nicht-staatliche Entwicklungsorganisationen sich darauf berufen, sie hätten die Gender-Mainstreaming-Prozesse längst abgeschlossen und deshalb sei Gender kein bedeutendes Thema mehr. Angesichts der massiven Ungleichheiten und hohen geschlechtsspezifischen Gewaltraten, die etliche Projektverantwortliche nur mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen, werden die Begrenzungen und die mangelnde Nachhaltigkeit bisheriger Mainstreaming-Bemühungen deutlich. Das Buch bietet Impulse, ehrlicher und differenzierter mit technokratischen Planungsvorgaben und komplexen Geschlechterhierarchien sowie dem Widerstand gegen Geschlechtergerechtigkeit umzugehen.
Rita Schäfer
PERIPHERIE Nr. 128, 32. Jg. 2012, S. 520-522
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