Felicitas Hillmann: Eine Einführung ähnelt einem Kompass, nicht einem Regal. Kurze Replik auf die Besprechung von Pascal Goeke
Die von mir verfasste Einführung präsentiert auf knappen 200 Seiten einen Überblick über die „neuen Geographien“ der Migration. In der Einleitung heißt es: „Die hier präsentierten ,neuen Geographien' der Migration [...] bleiben fragmentarisch und erheben nicht den Anspruch, ein Gesamtbild der aktuellen Migrationen und deren wissenschaftlicher Bearbeitung wie in einem Handbuch zu entwerfen. Doch sie wollen den Blick dafür öffnen, an welchen Punkten die internationalen Migrationen so etwas wie eine geographische Dimension aufweisen, wollen deren räumliche Verankerung freilegen“ (ebendort, S. 15f.). Um dies festzustellen, verwende ich das Konzept der „räumlichen Definitionsmacht“, das genau auf die Wirkmächtigkeit von Migration in unterschiedlichen regionalen Kontexten abzielt.
Es bildet den Bezugsrahmen für alle Kapitel und in jeder der Kapiteleinleitungen wird dieser Zusammenhang betont. Unterschieden werden die „alten Geographien“ (Kapitel 1-3), die Grundlage der sich herausbildenden „neuen Geographien“ sind (Kapitel 4-6). Die angenommene Bruchlinie zwischen den „alten“ und den „neuen“ Geographien ist die Globalisierung. Um es noch einmal glasklar zu sagen: es geht in diesem Buch nicht um Integration, sondern vornehmlich um internationale Migration und Ziel ist es, das vorhandene Wissen im Fach zu bündeln und dasjenige Wissen, das eine räumliche Perspektive mitdenkt, für die Geographie fruchtbar zu machen. Die ungeheure Vielfalt der Migration wissenschaftlich ohne Überlappungen zu ordnen – das ist nicht leistbar und so sind viele Einzelthemen an unterschiedlichen Stellen sinnvoll zu behandeln. Die Einführung ähnelt einem Kompass, der den/die LeserIn in Bewegung setzt, nicht einem Regal, in dem Themen voneinander getrennt gestapelt werden.
Eine Randnotiz zum Ablauf: Das Manuskript wurde weitestgehend im März 2015 abgeschlossen und alles das, was jetzt durch die hohe Zahl an Geflüchteten vehement diskutiert wird, z.B. bezüglich der EU-Situation, war Spezialwissen (das sich im Buch bereits findet). Heute ist der Kenntnisstand über Teilaspekte der Migration allgemein bereits deutlich höher als vor einem Jahr. Insofern hinkt die Einführung der Realität selbstverständlich hinterher.
Noch eine zweite Randbemerkung, diesmal zum Theoriekapitel: nirgendwo in den Lehrbüchern der Bevölkerungswissenschaft habe ich eine gezielte Aufarbeitung der Behandlung des Themas in der Zeit des Nationalsozialismus finden können oder eine Reflexion darüber, was der seinerzeit entworfene Rassismus mit seiner Homogenitätsvorstellung eigentlich für die Behandlung des Themas in der Entwicklung des Faches bedeutete. Eine besondere Beachtung genau solcher Aspekte schien mir angesichts eines hoch politisierten Themas, das man wirklich mit kritischem Auge lesen und lehren sollte, erforderlich. Eine Synopse, die die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas mit dem jeweiligen politisch-historisch Kontext verschränkt, zeigt die Parallelen der Fachentwicklung bezüglich des Themas in Geographie und Sozialwissenschaften und gibt den Studierenden damit eine grobe Orientierung an die Hand. Die Einführung bietet also Neues.
Und noch einige Bemerkungen zu den vermeintlichen „Schattenseiten“: Kristeva und Bogdal sind Geisteswissenschaftler, die eine dezidiert räumliche Perspektive einnehmen. Ebenso lieferten Elias und Scotson außerordentlich wichtige Denkfiguren für die Migrationsforschung, die bislang in der Geographie nicht auftauchen. Selbstredend könnte man auch ganze Enzyklopädien über ein so weites Feld wie die Exklusionsforschung schreiben – dies ist dem Rezensenten unbenommen. In einer Einführung kann es nur darum gehen, den Blick zu öffnen, Angebote zu machen.
Hartmut Esser, ein Urgestein der Migrationsforschung, zitiere ich zwar, gehe in Ermangelung der räumlichen Perspektive bei diesem Autor jedoch nur kurz auf dessen Assimilationstheorien ein. Die starke Bedeutung der Transnationalismusdebatte für die Sozialgeographie liegt auf der Hand (und wird daher auch breit behandelt). Wenn Historiker wie Bade und Hoerder ihre Migrationsgeschichte an Orten festmachen, dann, so finde ich, gehören deren Erkenntnisse in den Kanon der geographischen Migrationsforschung.
Witzig ist die Forderung von Goeke, dass für die geschlechtsspezifische Dimension ein eigenes Kapitel angemessen sei – das Thema ist absichtlich kontinuierlich im Buch präsent und hebt sich damit vom allgemeinen Zuschnitt der geographischen Lehrbücher ab (ein Blick in den Index: 28 Hinweise). Die Geschlechtsspezifik der Migration ist Teil des inhaltlichen Zuschnitts. Die Frage der Paarbeziehungen wird auf S. 166 unter Rückgriff auf die Arbeiten von Yeoh und Riano kurz behandelt – manche vom Rezensenten vermutete Lücke ist bei genauerem Hinsehen also keine. Auch wollte ich nicht unterschlagen, dass im Fach viele substantielle Arbeiten zur internationalen Migration im Rahmen der global change Forschung bzw. zur Metropolenforschung angefertigt wurden und werden. Migration ist das Unterpfand der Globalisierung – im Positiven wie im Negativen. Dieser geographisch gefärbten Tatsache gebührt dann schon ein eigenes Kapitel fünf – das sich in einem sozialwissenschaftlichen Lehrbuch wahrscheinlich nicht finden würde.
Zitierweise:
Felicitas Hillmann 2016: Eine Einführung ähnelt einem Kompass, nicht einem Regal. Kurze Replik auf die Besprechung von Pascal Goeke. In: http://www.raumnachrichten.de//rezensionen/2027-felicitas-hillmann-kurze-replik-auf-die-besprechung-von-pascal-goeke
Anschrift der Verfasserin
Prof. Dr. Felicitas Hillmann
Head of the Research Unit "Regeneration of cities"
IRS (Leibniz Institute on Society and Space)
Flakenstr. 29-31
15537 Erkner
Tel.:+493362 793232
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