Lisa Vollmer: Wenn „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“. Städtische soziale Bewegungen und Geschichte [1]

 

Rezension zu Armin Kuhn (2014): Vom Häuserkampf zur neoliberalen Stadt.  Münster: Westfälisches Dampfboot.

 

Ab Ende der 1960er Jahre befand sich die westliche Gesellschaft in einer Krise, in einer Übergangssituation im hegemonietheoretischen Sinne, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“ (Gramsci 2012 [1929 ff.]: H. 3, § 34, 354). Der alte hegemoniale fordistische Konsens begann zu bröckeln und ließ Raum für andere hegemoniale Projekte. Solche Über­gangssituationen sind prinzipiell offen. Indem Armin Kuhn in seinem Buch einen hegemonietheoretischen Blickwinkel einnimmt, wird nachvollziehbar, dass und wie Geschichte gemacht wird, dass sie kontingent und umkämpft ist. Deshalb spielen soziale Bewegungen in solchen Übergangssituationen eine besonders große Rolle. Denn „Herrschaft lässt sich ohne Widerstand nicht denken, Widerstand nicht ohne das Gegenüber, gegen das er sich formiert“ (Kuhn 2014: 65).

Kuhn beschreibt zwei im Kampf befindliche hegemoniale Projekte in der Offenheit der Krisensituation: Besetzerbewegungen und den Neoliberalismus. Den Hausbesetzer_innen ist immer wieder der Vorwurf gemacht worden, durch ihre Ideale der Selbstbestimmung und Autonomie die Neoliberalisierung vorweggenommen zu haben bzw. leicht vom Neoliberalismus vereinnahmbar gewesen zu sein. Werden aber soziale Bewegungen und ihre Akteure als aktive Ermöglicher der neoliberalen Erneuerung des kapitalistischen Herrschaftssystems dargestellt, werde, so der Vorwurf Kuhns, nur „die Hegemonie neoliberalen Denkens wider[ge]spiegelt und reproduziert“ (Kuhn 2014: 13). Denn so wird die scheinbare Alternativlosigkeit der Entwicklung unterschrieben, wo doch gerade die sozialen Bewegungen andere Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt haben.

Soziale Bewegungen nehmen neoliberale Denkmuster nicht vorweg, sondern stehen in einem wechselseitigen Prozess mit anderen hegemonialen Projekten. Mit dem symbolischen Jahr 1968 verschob sich die Kritik sozialer Bewegungen von der sozialen Frage der Arbeiterbewegung – der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital – zur Kritik an normierenden Mechanismen des fordistischen Staates. Folglich erweiterten sich auch die Felder des Pro­testes von der Fabrik und dem Büro zum Stadtteil, dem öffentlichen Raum und anderen Orten, an denen das staatliche Herrschaftsverhältnis spürbar war. Kuhn fasst die sogenannten neuen und städtischen sozialen Bewegungen als antifordistische Kämpfe zusammen. Sie stellen damit einen neuen Protestzyklus (Tarrow 1983) dar, der sich aus der Ablehnung fordistischer Produktions- und Lebensweisen speist. Boltanski und Chiapello (2006) haben diesen Übergang mit den Begriffen Sozial- und Künstlerkritik belegt. Die neuen Strategien der Künstlerkritik, wie sie die neuen sozialen Bewegungen und mit ihnen die Besetzerbewegung verkörpern, setzten die Forderungen nach Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und das Experimentieren mit abweichenden Lebensweisen gegen die for­dis­tische Hege­monie mit ihren Idealen des Normalarbeiterverhältnisses und der bür­ger­lichen Kleinfamilie. Zunächst traten Themen der Künstlerkritik in Verbindung mit sozialkritischen Forderungen auf und stürzten so, zusammen mit strukturellen Veränderungen wie der stärkeren Verbreitung der Hochschulbildung und der Zunahme von erwerbstätigen Frauen, den hegemonialen Konsens ‚Fordismus‘ erst in die Krise. Ein Beispiel für die von Kuhn postulierte Wechselwirkung zwischen sozialen Bewegungen und staatspolitischem Handeln ist die Erklärung für die spätere Dominanz der Künstlerkritik über die Sozialkritik: Die Proteste der frühen 1970er Jahre führten zu einer (kurzzeitigen) Ausweitung von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und einer Erhöhung des Lohnniveaus, was die Arbeiter_innen in den neuen sozialen Bewegungen demobilisierte (Kuhn 2014: 47 f.). Die Hausbesetzungsbewegungen können außerdem stellvertretend für eine andere Tendenz der neuen sozialen Bewegungen stehen: Mit ihrer Errichtung von ‚Freiräumen‘ und ‚autonomen Zentren‘ dringt das Politische in den Bereich des Alltags und der Lebensweise ein, hier soll die verloren geglaubte ‚Authentizität‘ der Lebensführung (Reichardt/Siegfried 2010) wiedererlangt werden.

Parallel zu dem gegen-hegemonialen Projekt der sozialen Bewe­gung­en entwickelte sich eine andere Antwort auf die „Vielfachkrise“ (Demi­ro­vić et al. 2011) des Fordismus: der Neoliberalismus. Gerade Städte wurden zum Experimentierfeld neoliberaler politischer Praktiken (Brenner/Theo­do­re 2002: 21) rund um Ökonomisierung, der Redefinition von Staat­lich­keit und Individualisierung (Kuhn 2014: 61 ff.). Die Träger dieses hegemonialen Pro­jekts bleiben bei Kuhn seltsam unausgefüllt.

Im Verlauf des Buchs geht Kuhn den von ihm postulierten „Ver­wandt­schafts­ver­hältnissen“ beider hegemonialer Projekte auf den Grund. Einen ersten Berührungspunkt erkennt er in der Kritik am fordistischen Wohl­fahrts­­staat. Ge­mein­sam­kei­ten dieser Kritik sind die Ablehnung der emanzi­pa­to­­rischen Grund­lage des Wohlfahrtsstaates bzw. der These, die in ihm gara­n­tie­r­ten sozialen Rechte seien die notwendige Voraussetzung für Selbst­be­stim­mung. Auch kri­ti­sier­ten sowohl der Neoliberalismus als auch die Besetzerbewegungen den Wohl­fahrts­staat aufgrund seiner bürokratischen Verfahren sowie der von ihm pro­du­zier­ten Unfreiheiten und neuen Un­gleich­heiten jenseits der Klassen­frage. Anders als die Kritik der sozialen Bewegungen an einer „Kolonialisierung der Lebens­welt“ (Habermas) beförderte die neoliberale Kritik allerdings eine Um­deu­tung der Rolle von Staatlichkeit zur Organisation von marktför­mi­gem Wett­be­werb einerseits und zur Herstellung von ‚Sicherheit und Ordnung‘ an­de­rer­seits.

Einen weiteren Berührungspunkt macht Kuhn in der Proklamation von Autonomie und Selbstbestimmung als zentralen Werten beider Pro­jek­te aus. Beiden würde dabei ein bürgerliches Subjektbild und dessen Frei­­heits­­versprechen zugrundeliegen; zudem hätten beide ihre Kritik diskursiv mit ästhetischen Vorstellungen verbunden. Politische Fragen konnten so auf eine Frage des Lebensstils reduziert werden.

Berührungspunkte sieht Kuhn auch in den Ideen zur „Regierung der Selbst­be­stimmung“. Beide Projekte orientierten sich in Ablehnung des zen­tra­lis­tischen Wohlfahrtsstaates an „Dezentralität, Hierarchieabbau, Projekt­orien­tie­rung, Informalität und netzwerkartige[r] Koordination“ (Kuhn 2014: 174). In den sozialen Bewegungen wurden durch alltagspraktisches Experimentieren Kon­zepte der Selbstverwaltung und -hilfe entwickelt. Selbstbestimmung und -verwaltung wurde bei den sozialen Bewegungen allerdings als kollektive Aufgabe gedacht. Dagegen verlagerten die neoliberalen Konzepte der Governance, des Humankapitals und der Autonomie die Organisation von Gesellschaft weg vom Sozialstaat in privatwirtschaftliche Unternehmen und die individuelle Verantwortung der Einzelnen. So sehr sich die „Argumente und Ziele, Interessen und Bedürfnisse, Praktiken und Konkretisierungen“ (Kuhn 2014: 174) der beiden Strömungen auch unterschieden, letztlich verschob sich die politische For­de­rung nach Selbstbestimmung zu einer „gesellschaftlichen Forderung an die Ein­zelnen“ (Kuhn 2014: 173). Die sozialen Bewegungen wurden so zum „Hebel“ (Kuhn 2014: 175) für die Hege­mo­niali­sie­rung des neoliberalen Projekts, das ihre Ansätze umdeutete und sich dabei auch an sie anpasste. So konnte das „Verwandtschaftsverhältnis“ von bloßen Berührungspunkten zu tatsächlichen Gemeinsamkeiten umgearbeitet werden, was nach Kuhn durch vier große Verschiebungen geschah:

„Diese Verschiebungen bestanden in einer Reduktion vielfach aufgeworfener Alternativen zur zentralstaatlich-autoritären Regierungs­weise auf eine Politik der eigentumsgebundenen Privatisierung; in einer Auflösung des Nebeneinanders sozialer und lebensweltlicher For­de­rungen hin zu einem Ausblenden der sozialen Frage und einer Ent­politisierung und Kul­tura­li­sie­rung gesellschaftlicher Kon­flik­te; in einer Auflösung eines komplexen individuell-kollektiven Auto­no­mie­­anspruchs zugunsten bloß individueller Selbstbestimmung; sowie einer Ökonomisierung der gegenkulturell geprägten Selbstbilder und Organi­sationsweisen.“ (Kuhn 2014: 176)

Diese Verwandtschaftsverhältnisse und ihre konkreten Wechselwirkungen macht Kuhn (exemplarisch) anhand der Hausbesetzungsbewegungen in Berlin und Barcelona nachvollziehbar, leider ohne die Akteur_innen dabei selbst ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Es wird deutlich, dass die Besetzungsbewegung im Berlin der frühen 1980er Jahre noch einigen Einfluss auf die Ausgestaltung von Stadtpolitik gewinnen konnte, da sie sich am noch nicht stabilisierten Übergang zum neuen hegemonialen Konsens des Neoli­be­ralis­mus vollzog. Die Besetzungsbewegungen in den 1990er Jahren in Berlin und Barcelona trafen dagegen auf eine bereits gefestigtere neoliberale Stadtpolitik und konnten dementsprechend kaum Einfluss ausüben.

Ende der 1970er Jahre war das stadtpolitische Modell Berlins für viele offensichtlich gescheitert. Hoher Leerstand und Kahlschlagsanierung standen von vielen Seiten in der Kritik. Die entstehenden Stadtteilinitiativen, die Alter­na­tiv­szene und Jugendzentrumsbewegung setzten dem fordis­tisch­en Leit­­bild der funktional aufgeteilten und autogerechten Stadt eine neue Idee des Städ­tischen (M. Castells) entgegen „als gewachsen, funktional durchmischt, dezen­tral, gebrauchswertorientiert und von Vielfalt und Unterschiedlichkeit geprägt“ (Kuhn 2014: 72). Aus den drei Bewegungsströmungen kristallisierte sich die Aktionsform Besetzen als geeignetes Mittel heraus, diese Idee zu verkörpern – es entstand die zunächst sehr heterogene Besetzungsbewegung. Hinter der Praxis des Besetzens standen ganz verschiedene Intentionen, von der Stra­tegie gegen Wohnungsnot über die ‚Instandbesetzungen‘ von Altbauten zur eigen­en Nutzung bis hin zur Errichtung von sozialen Zentren und Freiräumen, um alternative Lebensweise auszuprobieren. Besetzung war also manchmal Ziel, manchmal Mittel; ein Konflikt, der sich auch in der Auseinandersetzung zwischen ‚Verhandler_innen‘ und ‚Nichtverhandler_innen‘ widerspiegelte. Die Besetzungsbewegung traf auf Brüche in der politischen Landschaft, in der selbst Teile der CDU eine Abkehr von der alten Stadterneuerungspolitik forcierten. Es ergaben sich also bedingte Möglichkeiten für die Hausbesetze­r_innen, Einfluss auszuüben. Schnell hatte aber auch der Senat Praktiken für den Umgang mit den Besetzer_innen gefunden: Ihnen wurde mit einer Mischung aus selektiver Einbindung und gewaltsamem Ausschluss begegnet, die Bewegung so effektiv gespalten. Trotzdem schlug sich der Einfluss der Hausbesetzer_innen, ihre entwickelte Idee des Städtischen, in nichts weniger nieder als in der Abkehr von Flächensanierungen und im neuen Mo­dell der ‚behutsamen Stadterneuerung‘ als neuem hegemonialem Konsens. Dieses Beispiel zeigt im Kleinen einen hegemonialen Aushandlungsprozess und die relevante Rolle sozialer Bewegungen dabei (Holm/Kuhn 2010). Das Programm der ‚behutsamen Stadterneuerung‘ ist einer der Gründe, warum bis Anfang der 2000er Jahre die Mietsteigerungen in Berlin relativ moderat verliefen. In der ausgehandelten Neuerung lag aber auch schon der Fallstrick für die Entpolitisierung der Bewegung: Die neue, dezentralisierte Planung machte eine Politisierung von Themen über Kiez oder Bezirk hinaus schwierig. Mitte der 1980er Jahre rollte dank des CDU-Senats bereits die erste große Neoliberalisierungswelle über die Wohnungspolitik Berlins und unterlief so die Instrumente der ‚behutsamen Stadterneuerung‘, die nach und nach zur bloßen Moderationsinstanz bei anstehenden Sanierungen degradiert wurde – Partizipation wirkte nun vor allem als einhegendes, konsensstiftendes Moment. Die Vereinigung von Ost- und Westberlin und das Wegfallen des Sonderstatus Westberlins veränderten die politischen Rahmenbedingungen enorm. Der städtische Haushalt schrumpfte, während gleichzeitig die Ostberliner Innenstadtviertel mit ihrem Sanierungsbedarf hinzukamen. Unter anderem durch das Treuhandgesetz setzte sich „eine umfassende Privatisierung und Neuordnung der Eigentumsverhältnisse in Gang“ (Häußermann et al. 2002: 31). Die ‚behutsame Stadterneuerung‘ diente dabei auch als symbolischer Rahmen, innerhalb dessen sich die Neo­li­berali­sierung durchsetzen ließ. In dieser Situation hatte die zweite Besetzungsbewegung von 1989/90, die sich vor allem in Ostberlin Häuser aneignete, keine neuen gegen-hegemonialen Angebote zu machen, da sich ihre Ideen bereits in den hegemonialen Konsens eingeschrieben hatten. Gleichzeitig standen dem Senat die erlernten Praktiken im Umgang mit Hausbesetzer_innen zur Verfügung. So konnte die zweite Bewegungswelle kaum Einfluss auf die Politik gewinnen. Diese zweite Welle zeigt auch die subkulturelle Einigelung der Bewegung, ihre identitäre Fixierung auf Freiräume. So gab es zum Beispiel 1992 kaum Schnittstellen zwischen ihr und dem Bündnis „Wir bleiben Alle!“, das Stadtteilaktivist_innen und Betroffene gegründet hatten.

Auch die Besetzungsbewegung in Barcelona ging aus der Jugendbewegung und der Nachbarschaftsbewegung hervor. Die Bewegung konnte allerdings nie den Einfluss gewinnen, den die erste Welle in Berlin hatte, da sie ab Mitte der 1980er Jahre zu einem Zeitpunkt mit antifordistischen Ideen und Praktiken agierte, zu dem der krisenhafte Übergang vom Fordismus zum Neoliberalismus schon weiter fortgeschritten war. Die Besetzungsbewegung richtete sich gegen nicht eingehaltene Versprechen des ‚Modell Barcelona‘. Dieses sah, mit einiger Parallelität zur ‚behutsamen Stadterneuerung‘, Instand­setzungen statt Abriss vor und verschob die Planungsebene von der gesamten Stadt in die Stadtviertel. Auch das ‚Modell Barcelona‘ geht auf eine Protestbewegung zurück, nämlich die breite Nachbarschaftsbewegung, die in Spanien Ende der 1960er Jahre entstand. Wie in Berlin spielten hier pro­gres­sive Stadtplaner_innen und Architekt_innen bei der Ausarbeitung des Modells sowie der Übersetzung der lebensweltlichen Forderungen und der Ideen der Bewegung in planbare Entwicklungen eine wichtige Rolle. Auch das ‚Modell Barcelona‘ sah partizipative Instrumente auf lokaler Ebene vor und verlagerte den Konflikt damit auf eine kleinteilige Ebene. Die Instrumente zur Einhegung der Besetzer_innen waren also schon vor ihrem Auftreten geschaffen. Eine „Selbst-Ghettoisierung“ (Kuhn 2014: 128) in subkultureller Abgrenzung war die Folge und Anlass zu Selbstkritik und Konflikten innerhalb der Bewegung. Wie in Berlin waren zu diesem Zeitpunkt die subkulturellen Freiräume einer kulturalisierten Stadtpolitik kein wirklicher Dorn im Auge mehr.

Kuhn bezeichnet die Besetzungsbewegung der 1990er Jahre bis heute deshalb als anachronistische Bewegung, die dem neoliberalen hegemoni­alen Kon­sens keine gegen-hegemonialen Bilder mehr entgegenzusetzen habe. Ihre Prin­zipien – die prinzipielle Ablehnung staatlicher Planung und Verwaltung, das Setzen von Autonomie und Selbstbestimmung als Aus­gangs­punkt und Ziel politischen Handelns sowie die ästhetische Fixierung auf alternative Lebens­weisen – seien aber nicht nur obsolet geworden, da ihnen das Feind­bild ab­handen gekommen sei, sie seien durch ihre „Ver­wandt­schaftsverhältnisse“ zum Neoliberalismus auch kontraproduktiv für aktuelle (stadt-)politische Bewegungen. Nicht nur hier gibt Kuhn einige interessante Hinweise zum Verständnis der heutigen neuen Welle städtischer Bewegungen, die wieder auf die Krise eines hegemonialen Konsenses antworten – diesmal die des Neoliberalismus. Zu bedauern ist, dass Kuhn in seinem Buch kaum auf migrantische Proteste der 1980er Jahre eingeht. Von ihnen wäre wohl eher eine Kontinuitätslinie zur neuen Bewegungswelle zu ziehen. Aus den Erfahrungen der Besetzungsbewegung mit der „Ambivalenz des Besetzens“ können, so Kuhn, die heutigen Bewegungen lernen, der ständig drohenden neoliberalen Vereinnahmung produktiv zu begegnen. Dies kann aber nur gelingen, wenn man vom Moment des (Selbst-)Vorwurfs der neoliberalen Vereinnahmung Abstand nimmt. Heutige Dilemmata städtischer Bewegungen, mit denen schon die Besetzungsbewegungen zu kämpfen hatten, sieht Kuhn in drei auch heute noch relevanten Konfliktfeldern aktualisiert: dem Umgang mit staatlichen Institutionen, der von der anti-institutionellen Haltung und dem Ideal der Selbstverwaltung der Besetzungsbewegung ab­gelehnt wurde, dessen Ablehnung sich aber gleichzeitig in der neoliberalen Forderung nach Selbstbestimmung und Selbstorganisation und dem „Regieren durch community“ (Rose 2000) widerspiegelt; der Widerspruch zwischen Ansprüchen an die Urbanität des eigenen Lebensumfeldes der der Mittelschicht entstammenden Aktivist_innen und dem Wissen darüber, dass diese Gestaltung von Nachbarschaften für einen Aufwertungsdiskurs miss­braucht werden kann; und die immer noch relativ homogene Zu­sam­men­setzung von radikalen Protestgruppen mit ihren akademischen Mittelschichtsaktivist_innen.

Die Lektüre dieses Buches empfiehlt sich nicht nur allen, die Interesse an den Besetzungsbewegungen Berlins und Barcelonas haben. Vielmehr liegt mit Kuhns Arbeit ein sehr lesenswertes Buch ganz allgemein zur Genealogie städtischer und anderer sozialer Bewegungen vor. Auch für Historiker_innen bietet es deshalb viele Anregungen, soziale Bewegungen endlich angemessen in ihrer Rolle für politischen Wandel zu beschreiben. Stadtplaner_innen können erfahren, inwiefern planerische Paradigmenwechsel kein innerdisziplinäres Phänomen sind, sondern ganz konkret mit gesellschaftlichem Wandel und dessen Akteuren zusammenhängen. Und nicht zuletzt empfiehlt sich das Buch allen aktuell stadtpolitisch Bewegten, die die Konflikte in und zwischen ihren Gruppen verstehen und lösen wollen, die strategische Anregungen suchen und die neoliberale Praktiken analysieren und sich ihnen widersetzen wollen.

Anmerkungen 

[1] Das Zitat aus der Überschrift ist aus Gramsci 2012 (1929 ff.): H. 3, § 34, 354 entnommen.

 

Autorin

Lisa Vollmer ist Stadt- und Kultursoziologin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind ur­bane Pro­testformen, Wohnraumversorgung und kapitalistische Stadtproduktion.

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Literatur

Boltanski, Luc / Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK.

Brenner, Neil / Theodore, Nik (2002): Cities and the geographies of “actually existing neoliberalism”. In: Antipode 34/3, 349-379.

Demirović, Alex / Dück, Julia / Becker, Florian / Bade, Pauline (Hg.) (2011): Vielfachkrise. Ursachen, Zusammenhänge und Strategien von Krisen im Kapitalismus. Hamburg: VSA.

Gramsci, Antonio (2012 [1929 ff.]): Gefängnishefte. Hg. v. Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug. Hamburg: Argument Verlag.

Häußermann, Hartmut / Holm, Andrej / Zunzer, Daniela (2002): Stadterneuerung in der Berliner Republik. Modernisierung in Berlin-Prenzlauer Berg. Opladen: Leske + Budrich.

Holm, Andrej / Kuhn, Armin (2010): Häuserkampf und Stadterneuerung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2010, 107-115.

Kuhn, Armin (2014): Vom Häuserkampf zur neoliberalen Stadt. Besetzungsbewegungen in Berlin und Barcelona. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Tarrow, Sidney (1983): Struggling to Reform. Social Movements and Policy Change during Cycles of Protest. Ithaca: Center for International Studies, Cornell University.

Reichardt, Sven / Siegfried, Detlef (2010): Das alternative Milieu. Konturen einer Lebens­­form. In: dies. (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983. Göttingen: Wallstein, 9-26.

Rose, Nikolas (2000): Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In: Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 72-109.

 

Quelle: s u b \ u r b a n, 2015, Band 3, Heft 1, S. 167-172

 

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