Doreen Massey: Power-geometries and the politics of space-time. Hettner-Lecture 1998. Heidelberg 1999. 112 S.

Zur Hettner-Lecture in Heidelberg wurde 1998 DOREEN MASSEY, Professorin an der Open University in Milton Keynes, Großbritannien, eingeladen. Erklärtes Ziel der jährlich stattfindenden Hettner-Lecture ist es, neuere theoretische Entwicklungen im Grenzbereich von Geographie, Wirtschaftswissenschaften und allgemein den Sozialwissenschaften anzusprechen. Auf dem Programm stehen zwei Vorlesungen des jeweiligen Gastdozenten, im Anschluß daran finden mehrere Seminare für ausgewählte Studenten und Nachwuchswissenschaftler statt.
Diese Struktur findet sich auch im Inhalt des Buches wieder. Nach einer Einführung der Herausgeber PETER MEUSBURGER und HANS GEBHARDT über die Hettner-Lecture folgen zwei Aufsätze von DOREEN MASSEY Imagining globalisation: power-geometries of time-space und Philosophy and
politics of spatiality: some considerations, welche die in Heidelberg gehaltenen Vorträge wiedergeben. In einem weiteren Kapitel, Interpreting identities: Doreen Massey on politics, gender, and space-time, sind die wichtigsten Diskussionsbeiträge der Seminare in Form von Fragen zusammengefaßt, auf die DOREEN MASSEY antwortet. Das letzte Kapitel 'I feel as if I've been able to reinvent myself' beinhaltet ein biographisches Interview mit DOREEN MASSEY.
Der erste Aufsatz greift die aktuelle Globalisierungsdebatte auf und identifiziert unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte von Globalisierung. Zwei Möglichkeiten, Globalisierung zu konzeptualisieren, werden von MASSEY herausgegriffen und deren Effekte, vor allem auf intellektuelle und politische Diskurse, erörtert. Diese Erörterung kreist dabei um zwei zentrale Themen, auf die MASSEY immer wieder Bezug nimmt: Macht-Beziehungen und die Konzeptualisierung von Raum und Zeit bzw. Raum-Zeit. Diese beiden zentralen Themen sind für MASSEY das Ergebnis des Aufeinander-
treffens der Disziplinen Soziologie bzw. Cultural Studies und Geographie im angelsächsischen Sprachraum und somit direkt verbunden mit einer Einbringung raumtheoretischer Konzepte in die Sozialwissenschaften. Die erste Möglichkeit, Globalisierung zu konzeptualisieren, sieht MASSEY in den provozierenden und zugleich produktiven Diskursen postkolonialer Theoretiker, welche tiefgreifende Effekte und nicht zuletzt die Verräumlichung der Erzählung der Moderne mit sich brachten. Der erste Effekt des postkolonialen Diskurses liegt in der zentralisierung Europas, welche ein neue Perspektive von Kolonialisierung mit sich bringt. Kolonialisierung wird dabei nicht nur als Nebenprodukt von Ereignissen in Europa verstanden, sondern als signifikantes welthistorisches Ereignis. Ein zweiter Effekt ist direkt mit diesem verbunden: Wenn die Geschichte der Moderne mehr ist als die Geschichte europäischer Geschehnisse, muß es möglich sein nachzuvollziehen, wie diese Erzählung durch die Erfahrung und Wahrnehmung aus europäischer Perspektive bedingt und hervorgebracht war. Es war die Erzählung aus Sichtweise der Protagonisten. Globalisierung in dieser Lesart ermöglicht ein Verstehen der Positioniertheit und damit der geographischen Einbettung. Eine dritte Auswirkung findet sich in der Erkenntnis, wie der standardisierte Diskurs der Erzählung zur Legitimierung benutzt wurde und sich somit auch ein Verständnis entwickelte, welches Kulturen und Gesellschaften eine bestimmte Beziehung zum Raum zuschrieb. Orte wurden als abgegrenzt, als zugehörig zur Kultur gesehen.
Genau dies ist auch heute noch eine weitverbreitete Sichtweise in den Sozialwissenschaften: die Vorstellung von Raum als bereits aufgeteilt, Orte als abgegrenzt und begrenzt. Eine vierte Lesart, die sich im postkolonialen Diskurs findet, ist eine Lesart, die auf die Vorbedingung der Erzählung der Moderne, Gewalt, Rassismus und Unterdrückung, Bezug nimmt. Genau diese Vorbedingungen und ihre Effekte erzählen über die Herausbildung bestimmter Abhängigkeiten und Positionen: die Etablierung bestimmter Macht- und Wissensbeziehungen, die sich letztendlich in einer Geographie niederschlugen, die auch eine Geographie der Macht war.
Die postkolonialen Diskurse im Rahmen der Globalisierungsdebatte brachten als weiteres Ergebnis neue Debatten über Raum und seine Funktion und Konstitution hervor. Am offensichtlichsten ist, daß die standardisierte Version der Moderne als eine Erzählung des Fortschritts ausgehend von Europa den Sieg der Zeit über den Raum verkörpert: räumliche Unterschiede wurden und werden als Unterschiede in zeitlicher Entwicklung interpretiert. Dies hat entscheidende Auswirkungen und läßt letztendlich eine Verbindung zwischen Verräumlichung, der Möglichkeit unterschiedlicher Darstellungen und der Existenz von Veränderung auftauchen. In räumlichen Figurationen treten nicht miteinander in Verbindung stehende Welten in Kontakt oder bereits in Kontakt stehende werden durch sie auseinandergerissen. Das Räumliche selbst wird somit zum Ursprung von Perspektiven und Vorstellungen.
Im Gegensatz zu dieser räumlichen Sichtweise wird Globalisierung in der Wissenschaft, der Politik und im populären Diskurs weitaus häufiger in einer nicht näher bestimmten
Art und Weise gebraucht. Hier überwiegt die Sichtweise der totalen Mobilität, des freien und ungebundenen Raumes. DOREEN MASSEY setzt diese Globalisierungsvorstellung mit der Idee einer umfassenden kulturellen Homogenisierung, der Vorstellung von Gleichzeitigkeit und somit der Vernichtung des Raumes durch die Zeit, gleich. Sie beschreibt diese sich wiederholende und unreflektierte Sichtweise von Globalisierung als eine weitere ,Große Erzählung', welcher tragischerweise eine geographische Vorstellung zugrunde liegt, die ihre eigentliche Räumlichkeit ignoriert.
Somit stellt MASSEY zwei unterschiedliche Konzepte der Beziehung zwischen Raum und Gesellschaft dar. Erstens die der Moderne und ihrer Vorstellung von Raum als gebunden und bereits unterteilt und somit einer Gleichsetzung von Räumen bzw. Orten und Kulturen bzw. Gesellschaften. Zweitens die der Alleinherrschaft des 'space of flows': der Raum der uneingeschränkten Globalisierung. Beide Sichtweisen kritisiert MASSEY als unzureichend, da beide Vorstellungen in einer Art und Weise gebraucht werden, die die eigentliche Räumlichkeit vernichten. Im Gegensatz zu diesen Sichtweisen macht sie einen dritten Weg aus, die Beziehung von Raum und Gesellschaft zu verstehen. Diese Vorstellung beinhaltet das Räumliche als die Sphäre des Nebeneinanders, der Koexistenz und unterschiedlicher Erzählungen und als das Produkt von machtgeladenen sozialen Beziehungen. In diesem Kontext könnten Orte als Artikulationen sozialer Beziehungen gesehen werden und würden somit sowohl lokale Verbindungen innerhalb der ,Orte' als auch die vielen Beziehungen, die dahinterstehen, einschließen und erfüllten als ,Treffpunkt' eine bestimmte Funktion. Eine solche räumliche Lesart von Globalisierung würde das Erkennen von Machtbeziehungen und differenzierten Strukturen der spezifischen Formen von Globalisierung ermöglichen und so die Möglichkeit zu alternativen Erzählungen und Lesarten offen halten.
Übergeordnete Fragestellung des zweiten Aufsatzes von DOREEN MASSEY Philosophy and politics of spatiality: some considerations ist, wie über Raum und Räumlichkeit gedacht
werden könnte. Zuerst führt MASSEY aus, inwieweit ,Raum' ein Begriff ist, der in allen möglichen Kontexten gebraucht wird, aber viel zu selten systematisch erklärt wird und dessen mögliche Bedeutungen zu selten angesprochen werden. Im Fokus dieser Überlegungen steht der Umgang mit Raum, 'politics of space', aus dessen Beobachtung MASSEY drei Vorschläge entwickelt, Raum zu konzeptualisieren:
- Raum als Produkt von Beziehungen, welche kommunikativ hergestellt werden.
- Raum als Sphäre, die die Existenz von Vielfalt ermöglicht.
- Raum als ständig einem Prozeß unterworfen und somit als nicht geschlossenes System.
Anschließend zieht MASSEY Verbindungen zu aktuellen progressiven ,politischen' Debatten.1) Unter 'politics for our times' bzw. 'progressive politics' versteht sie die Verpflichtung gegenüber der Offenheit der Zukunft, die Wahrnehmung von Vielfalt und Unterschieden und einer generellen kritischen Aufmerksamkeit gegenüber essentialistischen Anschauungen. Jede der drei vorgeschlagenen Möglichkeiten beinhaltet unterschiedliche Aspekte dieser Verbindungen. Die Vorstellung von Raum als ein Produkt von Beziehungen steht in Einklang mit Versuchen, Identitäten nicht als gegeben und fixiert anzusehen, sondern auf die Offenheit und das ,Werden' Bezug zu nehmen und so die Konstruiertheit und Relationalität zu betonen. Die Konzeptualisierung von Raum als Sphäre der Möglichkeit von Vielfalt steht in Beziehung zu Versuchen, die Perspektive des ,Anderen' mit einzubeziehen. Dieser emanzipatorische Ansatz kann als Ergebnis feministischer und postkolonialer Diskurse gesehen werden. Die letzte Verbindung besteht zwischen dem Charakter des Raumes als ständig einem Prozeß des Werdens unterworfen und der generellen Offenheit der Zukunft. Ihre drei Vorschläge der Konzeptualisierung von Raum bezieht MASSEY weiterhin auf andere sozialwissenschaftliche Strömungen, die sich mit der Konzeptualisierung von Raum beschäftigen. Zentral sind in diesem Zusammenhang vier Bezüge bzw. Aussagen, deren Vorstellung von Raum MASSEY mit ihrem Konzept ,entkommen' möchte: (1) Die Diskussion der Ursachen von Ungleichheit, welche für MASSEY im Gegensatz zu anderen Theoretikern, die Zeit als die wesentliche Dimension von
Ungleichheit bzw. Unterscheidungen sehen, räumlich sind. Verkürzt läßt sich dies durch folgende Logik darstellen: Notwendige Voraussetzung für die Existenz von Zeit sind Wechselwirkungen, die Voraussetzung für Wechselwirkungen ist Vielfalt und die Voraussetzung für Vielfalt ist Raum bzw. Räumlichkeit. (2) Die Kritik eines strukturalistischen Raumkonzeptes, welches zwar die Wichtigkeit des Raumes betont, sich jedoch in der Weiterentwicklung zu einer Dichotomie von Raum und Zeit entwickelte. Raum wird hier als das
Gegenteil von Zeit betrachtet, Raum ist damit per se nicht-zeitlich, was in der Folge dazu führt, daß Raum Stillstand und somit ein geschlossenes System ist. (3) Die Kritik an einem Raumkonzept, welches Raum in zeitlichen Ausdrücken beschreibt. Dies impliziert die Vorstellung von räumlichen Unterschieden, die als zeitlich dargestellt werden und somit die wirkliche Signifikanz des Räumlichen unterdrücken. (4) Die Kritik an einer spezifischen Vorstellung von Gesellschaft und Raum, welche einen Isomorphismus zwischen Kultur bzw. Gesellschaft und ihrem jeweiligen Ort unterstellte.
Der dritte Teil der Publikation ist eine Zusammenfassung von Diskussionsbeiträgen aus den beiden Seminaren, die im Rahmen der Hettner-Lecture abgehalten wurden. Es werden hier einige Themen aus den Aufsätzen bzw. den Vorträgen aufgegriffen und eingehender unter fachpolitischen und methodologischen Gesichtspunkten diskutiert. Oft werden
allerdings Ereignisse aus dem Tagesgeschehen der Seminare angesprochen, so daß es für den Leser, der nicht an diesen teilgenommen hat, schwer sein wird, einen Bezug herzustellen. Das biographische Interview als letzter Teil des Buches ist dagegen sehr interessant. Hier schildert DOREEN MASSEY ihren akademischen Lebenslauf und gibt dem Leser die Möglichkeit, sehr viel über die Person DOREEN MASSEY zu erfahren.
Insgesamt ist das Buch mit den beiden Aufsätzen von DOREEN MASSEY wohl eine der interessantesten aktuellen theoretischen und fachpolitischen Publikationen. Den Herausgebern ist es nach der ersten Hettner-Lecture 1997 mit DEREK GREGORY gelungen, das hohe Niveau mindestens zu halten und einen nachhaltigen Beitrag zur Einbringung neuer und progressiver Konzepte in die deutschsprachige Geographie zu leisten. Die günstige preisliche Gestaltung dürfte auch gerade Studierenden die Möglichkeit geben, sich durch die Publikationen der Hettner-Lecture mit wesentlichen Thesen und Argumentationen führender Theoretiker der Geographie auseinanderzusetzen. Im übrigen erschien fast zeitgleich mit der besprochenen Publikation das Buch Human Geography Today2), das von DOREEN MASSEY mitherausgegeben wird. Es greift viele Aspekte der Hettner-Lecture auf und führt diese in erstaunlich offener Art und Weise weiter.
Literatur
MASSEY, D.; ALLEN, J. a. SARRE, P. (1999) (Eds.): Human Geography Today. Cambridge, Oxford, Malden. Polity Press.
Autor: Thorsten Hülsmann

Quelle: Erdkunde, 54. Jahrgang, 2000, Heft 1,