Tilmann Harlander (Hrsg.) 2007: Stadtwohnen. Geschichte – Städtebau – Perspektiven. München: Deutsche Verlagsanstalt. 400 S.
Gefördert von der Wüstenrotstiftung und herausgegeben von Tilman Harlander in Verbindung mit Harald Bodenschatz, Gerhard Fehl, Johann Jessen und Gerd Kuhn, ist ein vielseitiger und inhaltsreicher Sammelband über das Wohnen in der Stadt entstanden, in dem sich geschichtliche Entwicklung und heutige Problematik begegnen. Gemeinsam wirken die Herausgeber als Autoren der Einführung unter dem Titel «Geschichte – Städtebau – Perspektiven» und des Abschlusskapitels «Stadtwohnen gestern – heute – morgen»; als Einzelautoren treten sie jeweils in den übergreifenden Artikeln für verschiedene Zeitabschnitte wie auch in der Darstellung einzelner Fallstudien auf.
Damit ist die Gliederung des Gesamtwerks angedeutet, deren Ziel «eine bis ins 16. Jahrhundert reichende Darstellung der Geschichte derjenigen sozialen Gruppen (ist), die statt der ‹Stadtflucht› in Villenkolonien, Gartenstädte und suburbane Einfamilienhausgebiete dichtere, urbane Alternativen des Stadtwohnens bevorzugten». Grundlegend für die Darstellung ist eine Gliederung in vier unterschiedlich geprägte Zeitabschnitte, von den Herausgebern charakterisiert als
• «die Zeit vom 16. Jahrhundert bis etwa 1850, für die in zwei Schwerpunkten der Wohnungsbau des städtischen Patriziats und des Absolutismus in seinen verschiedenen Facetten (Stadtumbau und ‹modellmässiger› landesfürstlicher Hausbau) und die Transformation der mittelalterlichen Stadt in die ‹moderne› Bürgerstadt um 1900 thematisiert sind,
• die Zeit von etwa 1850 bis 1914, während der sich eine neue urbane bürgerliche Wohnlandschaft vor allem ausserhalb der alten Stadt entfaltet und ausdifferenziert hat,
• die Zeit vom ersten Weltkrieg bis in die Mitte der 1970er-Jahre, in der – vor dem Hintergrund verallgemeinerter Grossstadtfeindschaft und auf unterschiedliche Weise durch den Staat gefordert und gefördert – vor allem die Dezentralisierung der Städte im Mittelpunkt stand und
• die Zeit seit Mitte der 1970er-Jahre, in der sich nicht nur in Deutschland, sondern europaweit die Anzeichen für eine ‹Renaissance› urbanen Wohnens verdichten und eine Vielzahl neuer (und alter) anspruchsvoller urbaner Haus- und Wohnungstypen entwickeln.»
Für diese Zeitabschnitte gibt es also jeweils einen reich illustrierten zusammenfassenden Überblick; der legendäre «eilige Leser» hätte allein mit deren Abfolge eine (fast) lückenlose Geschichte des «bürgerlichen Wohnungsbaues» von der Renaissance bis heute in der Hand. Zusätzliche Anschaulichkeit indessen gewinnt sie durch eine Reihe von Fallstudien, die je zur Hälfte deutsche und andere europäische Beispiele für das «Stadtwohnen» erläutern und durch zahlreiche Abbildungen veranschaulichen. Dabei wird die eingangs zitierte spezielle Blickrichtung auch dadurch deutlich, dass die gängigsten Beispiele für den Wohnungsbau des zwanzigsten Jahrhunderts – von den Wohnsiedlungen Ernst Mays in Frankfurt über Karlsruhe-Dammerstock bis zur Bremer Neuen Vahr und dem Berliner Märkischen Viertel – nicht ins Blickfeld kommen, weil sie ausserhalb des definierten Kernthemas liegen.
Umso ergiebiger ist die Darstellung jenes bürgerlichen Wohnens sowohl in den zusammenfassenden Übersichtsartikeln als auch in den Fallstudien. Neuplanungen unterschiedlichen Umfangs kommen dabei ebenso ins Blickfeld wie Sanierungs- und Stadtumbaumassnahmen. Bei den elf Beispielen aus den letzten drei Jahrzehnten fällt die Betonung der Lagen am Wasser – meist Konversionen überalterter Hafengebiete – ins Auge. In der zusammenfassenden Darstellung dieses Zeitabschnitts heisst es: «Dichte, Nutzungsmischung und aufgewerteter öffentlicher Raum sowie eine möglichst passgenaue Mischung aus den Wohnformen sind gemeinsame Merkmale vieler Projekte. Angebote für Familien in Stadthäusern, Stadtvillen und seit neuerem auch in Wohnhochhäusern stehen neben neuen und alten Lofts, die auch auf die modernen ‹urbanities› und die ‹Kreativen› zielen». Aufschlussreich ist auch ein ergänzender «Exkurs» unter dem Titel «sozialräumliche Untersuchung des Hausbesitzes in Frankfurt am Main 1760 bis 1850», der in mehreren Karten die «Sozialtopographie» der alten Reichsstadt verdeutlicht.
Angesichts der Fülle von erhellenden Abbildungen könnte man allenfalls kritisch anmerken, dass ein Teil der Wohnungsgrundrisse unerläutert bleibt, so dass man etwa über die Lage von Küche und Bad nur Vermutungen anstellen kann. Ganz ohne ein paar Fehler kann es auf 400 Seiten kaum abgehen: so heisst die auf S. 81 im Bild gezeigte Strasse nicht «Allerwall», sondern «Alter Wall», nicht recht verständlich ist auch die Bezeichnung von Wolfgang Bangert als «der Städteplaner des modernen Frankfurts der 1920er Jahre», ohne dass Ernst May erwähnt wird (S. 83).
Aber das sind Kleinigkeiten, die der Bedeutung dieses Buches keinen Abbruch tun; es bietet eine Fülle von Orientierungshilfen aus der Vergangenheit, wie sie für die Arbeit des Architekten und des Stadtplaners von Bedeutung sind, und es eröffnet Ausblicke auf die künftige Entwicklung und die in ihr zu bewältigenden Probleme. Vielleicht mag mancher denken, dass es sich bei dem historischen Rückblick und der Darstellung gegenwärtiger und künftiger Aufgaben um ganz verschiedene Themen handele – aber gerade ihre Verknüpfung fördert ein «ganzheitliches Denken», das für Wissen und Handeln gleich wichtig ist.
Gerd Albers, Gemering
Quelle: disP 172, 1/2008, S. 95-96
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