Marco Thomas Bosshard, Jan-Dirk Döhling, Rebecca Janisch, Mona Motakef, Angelika Münter und Aleander Pellnitz (Hrsg.): Bosshard SehnsuchtsstaedteSehnsuchtsstädte. Auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen. Bielefeld (Urban Studies): transcript, 2013, 286 S.

Städte versprechen die Zukunft. Ihre Attraktivität manifestiert sich in einem ungebrochen starken Wachstum, und solange die Menschheit Hoffnung hat, werden Städte weiter expandieren und den weitaus überwiegenden Teil der Weltbevölkerung beherbergen. Städte versprechen aber nicht nur die Zukunft, etwa für die vielen Migranten, die mit einem Leben in der Stadt ihr Los verbessern wollen, sie sind zugleich die Zukunft. In Städten wird nicht nur über die großen Herausforderungen der Gegenwart entschieden, sie selbst stellen diese Herausforderungen dar: Klimawandel, Ressourcenverbrauch, nachhaltige Energieversorgung. In all diesen Feldern bilden Städte den zentralen Teil des Problems wie auch die effizientesten Schlüssel zu ihrer Lösung. Veränderungen nur an wenigen Stellschrauben genügen, die Nachhaltigkeitsbilanz der Stadtbevölkerung entscheidend zu verbessern. Oft genug mögen sich die Stadtbewohner/innen ihrer diesbezüglichen Rolle bewusst sein, wenn es darum geht, auf der „Suche nach lebenswerten urbanen Räumen“, so der Untertitel des Buches, erfolgreich zu sein und damit „Sehnsuchtsstädte“ zu adressieren. Anderswo hingegen fehlt dieses Bewusstsein noch komplett, und der/die Einzelne wird vom täglichen Überlebenskampf, von den Bemühungen, die Gunst und Potentiale der Städte zu nutzen, absorbiert.

 

Das Buch, hervorgegangen aus einem Symposium, das 2013 in Dortmund abgehalten wurde und sein Thema interdisziplinär ausleuchten sollte, unterscheidet „Sehnsuchtsmedien“ von „Sehnsuchtspraktiken“ und „Sehnsuchtstechniken“. Diese Trias wird eingeführt von einer etymologisch-definitorischen Annäherung an den Sehnsuchtsbegriff (Jürgen Straub) und einem exemplarischen Überblick, zu welchen urbanen Ausdrucksformen Sehnsüchte Anlass geben können und dabei in Utopien münden (Alexander Pellnitz). Straub betont die originäre Nähe von „Sucht“ und „suchen“ und die seit der Romantik positiven Zuschreibungen für ein Gefühl, das als „Sehnsucht“ „einen ‚ganzen‘ Menschen [erfordert]“ (20). So unbestimmt Sehnsüchte sein mögen, so wirkmächtig können sie werden und sich in sehr konkreten Vorstellungen von Urbanität entfalten, wie Pellnitz hervorhebt. Vor allem den Bildern urbaner Gärten und nach oben strebender Turmgebilde, die von Mauern bewehrte metropolitane Utopien formen, liegen tiefe Sehnsüchte zugrunde, zu denen sich der Wunsch nach historischem Erbe und nach ästhetischer Architektur gesellt.

Wie solche städtischen Vorstellungen medial transportiert werden, wird im ersten großen Aufsatzblock der „Sehnsuchtsmedien“ aufgegriffen. In Rückgriff auf Augustinus‘ „Civitas Dei“ verdeutlicht sich am Beispiel der brasilianischen Siedlung Cidade de Deus, wie die „Sehnsucht nach einem urbanen Himmel auf Erden“ (43), „nach dem idealen Leben in einer idealen Stadt“ (47) in der tristen Realität einer Favela abgebildet wird und gleichzeitig als Roman- und Filmsujet künstlerisch verarbeitet werden kann (Marco Thomas Bosshard und Jan-Dirk Döhling). Vielleicht die Idealstadt schlechthin, das himmlische Jerusalem, ist auch eine „Sehnsuchtsstadt“ par excellence, die sich allerdings nur in den religiösen Texten manifestiert, die ein Beitrag aus theologischer Perspektive rezipiert und interpretiert (Reinhard von Bendemann). Die Rekonstruktion umfasst auch die genaue urbanistisch-architektonische Bauanleitung, wie sie aus dem Medium der biblischen Überlieferung abgeleitet werden kann. Doch bleibt diese Sehnsucht für den Menschen unerfüllt und unerreichbar und damit auf einer Meta-Ebene, die erst vom Beitrag zur „audiovisuellen Urbanität“ (Beate Ochsner) durchbrochen wird. Die Rezeption der Stadt, vermittelt über Bilder und Töne, wird hier konkret erfahrbar und „in bewegte, optisch-akustische Film-Bild-Räume übersetzt“ (110). Auch wenn solche Räume audiovisuell erlebbar sind, entstammen sie dennoch der Virtualität, so wie die Darstellung der Stadt in Computerspielen, aus denen gewisse Sehnsüchte gelesen werden können (Britta Neitzel). Dennoch muss wohl eher davon ausgegangen werden, dass der durchschnittliche User von Computerspielen, in denen Stadtsimulationen auftauchen, nicht allzu sehr von bestimmten Sehnsüchten nach urbanen Utopien getragen ist und die Quintessenz dieses Beitrags folglich nur mit einer gewissen Phantasie, wie sie Sehnsüchten eben zu eigen ist, dem Rahmenthema des Buches zugeordnet werden kann.

Mit „Sehnsuchtspraktiken“ ist der zweite Strang der im Buch versammelten Artikel betitelt. Damit werden Städte intentional verändert, und es sollen ihnen neue Erlebnisformen von Urbanität – tatsächlich in diesem Sinne – eingepflanzt werden, wie das sehr lebensnah und alltagstauglich beim „urban gardening“ geschieht (Christa Müller). Die Wiederentdeckung des Ländlichen und sein Transfer in einen urbanen Kontext, vermittelt durch virtuelle Foren in der Cyberwelt, hat sich zu einem Kulturen verbindenden und Sozialschichten überbrückenden Element entwickelt, das formelle wie informelle Züge tragen kann. Informell-aktionistisch stellt das „Guerilla Gardening“ eine vielfach noch ungewohnte Annäherungsform an urbane Sehnsuchtsräume dar (Patrick Huhn). Auch wenn es sich in vielen deutschen Großstädten noch in einer gewissen Experimentierphase befindet, kann davon ausgegangen werden, dass diese Praxis der Raumaneignung ihre Akteure finden und die Diskussionen um neue Formen der Gestaltung urbaner Flächen befördern und beleben wird. Soziale Innovationen am Beispiel des „Coworking“, neuer Arbeitsformen und entsprechender Infrastrukturen, die Spontaneität zulassen, Kreativität anfachen und Kommunikation begünstigen, können als weitere Praktiken aufgefasst werden, mit denen eine Anpassung an die geänderten Rahmenbedingungen der Stadt der Zukunft erfolgt (Bastian Lange). Wie von hier die Brücke zur „Sehnsucht“ im eingangs dargelegten Verständnis geschlagen werden kann, lassen diese Ausführungen zu den „neuen Orten des Städtischen“ allerdings weitgehend offen. Die Kultur- und Kreativwirtschaft antwortet auf bestehende Zwänge und schafft sich gleichzeitig neue, doch dies im Sehnsuchtsdiskurs zu verorten, den das Buch thematisch vorgibt, wirkte aufgesetzt und ist so aussichtslos, dass es Lange erst gar nicht versucht. Die Frage der Anschlussfähigkeit an den zentralen Begriff des Buches aber bleibt.

Gestaltungsmöglichkeiten zukünftiger Städte und dazugehörige Technologien formen die dritte Säule des Buches. Ein CO2-neutraler Umbau benötigt spezifische technische Voraussetzungen, wie ein Überblick (Tobias Hegmanns) deutlich macht. Ob die drängenden Erwartungen und Anforderungen an eine der Zukunft angepasste Stadt, von der Ästhetik über ihre kulturelle Beschaffenheit bis zu den Megatrends von Klimawandel, Gesundheit, Demographie und Mobilität mit ihren jeweiligen Implikationen für die Stadt, wirklich unter dem Schlagwort „Stadtsehnsüchte“ versammelt werden können und einzelne Best Practice-Beispiele und vernetzte Projekte die Bezeichnung „Sehnsuchtstechniken“ verdienen (J. Alexander Schmidt), muss zumindest offen bleiben. Hier erscheint vielmehr etwas in eine Choreographie hineingezwängt, das sich unter anderer Flagge, losgelöst von der begrifflichen Verbindung zur „Sehnsucht“, besser einpassen ließe. Dass sich „die Sehnsüchte vieler Bürger, die Sehnsüchte der Stadtplaner und die Sehnsüchte der Politik gegenüber [stehen]“ (225), wirkt eher wie der notgedrungene Versuch, den Sehnsuchtsdiskurs auch mit einer technischen Facette in Einklang zu bringen. Sind die „gebäudetechnische[n] Innovationen für die Stadt von morgen“ (Eckhart Hertzsch und Maike Buttler), so stimmig sie für sich genommen vorgetragen werden, tatsächlich „Sehnsuchtstechniken“, die tief dem Inneren des Menschen entspringen und auf einem schwer fassbaren Verlangen der Stadtbewohner/innen gründen, die sich ihrerseits regelrecht nach energieeffizienten Gebäuden und behaglichem Wohnklima verzehren?

Den eigentlichen „Sehnsuchtsstädten“ (oder „Sehnsuchtsorten“ innerhalb der Stadt) – neben dem brasilianischen Beispiel und Jerusalem – hätte vielleicht die stärkere Mitwirkung der Kulturwissenschaft, der Kulturgeschichte und der Kulturgeographie in diesem Buch gut getan. Denn dann wäre es wahrscheinlich weniger augenfällig geblieben, dass das Buch über beträchtliche Teile selbst nicht in Sehnsucht zu seinem eigenen Thema entflammt.

Werner Gamerith, Universität Passau, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Quelle: Geographische Zeitschrift, 102. Jg. 2014 · Heft 2 · Seite 124-126

 

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