Mark Bassin: Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East 1840 - 1865. Cambridge, New York, Melbourne 1999. 329 S.

"In Asien sind auch wir Europäer." Dieses Dostojewskij-Zitat aus dem Jahre 1881 nimmt in Bassins Interpretation der russischen Annexion des Amur-Gebietes 1858 eine Schlüsselstellung ein (S. 263): In Europa galten die Russen damals als rückständige Asiaten. Die für die russische Intelligenz demütigenden Jahrzehnte der autokratischen Herrschaft Nikolaus I., die Reformunfähigkeit des Regimes und die Niederlage im Krim-Krieg 1855 hatten ein Gefühl russischer Minderwertigkeit erzeugt, das durch die Kolonialisierung des Amur-Gebiets und Turkestans kompensiert werden sollte. Hier konnte Russland als europäische Kultur- und Zivilisationsmacht auftreten. 1857 verglich Nikolaj Spes&nev die Bedeutung des Amur für Russland mit der des Mississippi für die USA. Sibirien sollte über seinen einzigen großen Fluss, der nicht ins Nordmeer entwässert, direkten Anschluss an den Pazifik und den Welthandel erhalten (S. 143 ff.). Die Umorientierung Sibiriens vom rückständigen europäischen Russland zu den dynamischen, expandierenden USA, die den Pazifik zum Mittelmeer des 19. Jahrhunderts machen wollten, fand ihren mächtigsten Vertreter in der Person des ostsibirischen Generalgouverneurs Nikolaj Murav'ev  (Murawjow; 1809 - 81). Er erhielt nach den erfolgreichen  Verhandlungen mit China zur Übergabe des Amurgebiets 1858 den Adelstitel "Graf Amurskij" und gründete 1860 in den neuerworbenen Gebieten eine Stadt mit dem programmatischen Namen "Wladiwostok" - zu deutsch: "Beherrsche den Osten". In weniger als vier Jahren verspielte er diese Lorbeeren durch dilettantische, bürokratisch-grausame Kolonialisierungsversuche: Da sich nicht genügend freiwillige Siedler für die periphere und klimatisch ungünstige Region fanden, ließ Murav'ev Strafgefangene und Soldaten dorthin schicken. Da auf diese Weise ein beträchtlicher Männerüberschuss entstand, plünderte er die Bordelle von Irkutsk (S. 244). Diese Leute mußten eine neue Hauptstadt am Amur aufbauen, die Murav'ev mit nie wieder erreichtem Sarkasmus ""Blagoweschtschensk" nannte, die "Stadt der guten Nachricht". So heißt die Stadt übrigens noch heute. Da es jener seltsamen Bevölkerung an landwirtschaftlichem Fachwissen fehlte, musste sie auf lange Sicht aus anderen russischen Regionen versorgt werden. Zwar kamen ausländische Händler auf dem Seeweg bis vor die Amurmündung, doch konnten sie den neugegründeten Hafen von Nikolajewsk nicht anlaufen, weil die Mündungsarme des Amur immer neu versandeten. Der Amur selbst war aufgrund seiner unregelmäßigen Wasserführung für die Schifffahrt denkbar ungeeignet. Diese extern bedingten Handicaps waren übrigens den Entscheidern in Irkutsk vor der Annexion bekannt (S. 249). Das Kolonialisierungskalkül drehte sich um: Die "unterentwickelten Asiaten", in diesem Fall chinesische Kleinhändler, verhinderten, dass die neue russische Amur-Bevölkerung dem Hungertod zum Opfer fiel. Der Traum vom amerikanisierten, prosperierenden Amur war zum Trauma geworden. 1861 sollte Murav'ev-Amurskij in Petersburg zur Rechenschaft gezogen werden. Er entzog sich der drohenden Verurteilung durch eine Reise nach Paris, wo er 1881 starb (S. 258/259). Der Fehlschlag des Amur-Projekts grub sich so tief ins russische Bewusstsein ein, daß 40 Jahre danach die Ingenieure zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn die ungemütliche Region über chinesisches Gebiet umgingen (S. 279). Erst infolge des verlorenen Krieges mit Japan 1905 wurde später die Amur-Ussuri-Eisenbahn über Chabarowsk gebaut.
Als besondere Pointe fügt Bassin am Schluss des Buches hinzu, dass 120 Jahre später der Mythos Amur für ein weiteres "Jahrtausendprojekt" mißbraucht wurde: Der Bau der Baikal-Amur-Magistrale sollte ab 1971 neue Reichtümer im Fernen Osten erschließen. Aufgrund der Mißachtung physiogeographischer und geologischer Gegebenheiten (besonders komplizierte Dauerfrostböden, Erdbebengefährdung) wurde der Bau zu einem der teuersten Fehlschläge der sowjetischen Erschließungspolitik  (S. 281 - 282). Heute ist der Ferne Osten die Makroregion Russlands, die  durch die stärksten Abwanderungsverluste betroffen ist.
Bassin möchte in seiner Arbeit zeigen, wie stark das Image einer Region den politischen Diskurs und die daran anschließenden Aktivitäten beeinflussen kann. Als übergeordnetes Zielsystem dienen ihm "Imperialismus" und "Nationalismus", also Größen, die dem angelsächsischen Leser durch eine Vielzahl neuerer historisch-geographischer Arbeiten geläufig sind. Aber treffen sie auf das Russland von 1850 - 60 zu?
Mehr oder weniger unfreiwillig nährt BASSIN die Zweifel daran selbst.
-    Bis zum Tode von Nikolaus I. verbot die Petersburger Regierung jegliche Grenzverletzung einem vertraglich gebundenen Partner gegenüber. Und der Grenzvertrag von Nertschinsk 1689 mit China galt als einer der stabilsten.
-    Die Forscher und Entdecker der Amur-Region und die wichtigsten Befürworter der Annexion des Amur-Gebiets waren in den seltensten Fällen Russen, sondern vor allem Amerikaner, Baltendeutsche und ein Italiener (S. 72 - 90). Ihnen russischen Nationalismus zu unterstellen, erscheint bei aller Loyalität dem Zaren gegenüber, der übrigens auch kein ethnischer Russe war, vermessen.
-    Auch imperialistische Motive erweisen sich als wenig tragfähig, denn gerade zu jener Zeit standen die inneren Reformen (Aufhebung der Leibeigenschaft 1861) im Vordergrund der Diskussion. Einige der führenden Köpfe der russischen Intelligenz, unter ihnen auch Alexander Herzen, der einflußreiche Herausgeber der "Kolokol", der einzigen unzensierten politisch-kulturellen russischen Zeitschrift (Erscheinungsort: London), plädierten für die Auflösung des Russischen Reiches in Nationalstaaten und für ein unabhängiges  Sibirien (S. 271). 1867 wurde Alaska an die USA verkauft und so die Möglichkeit einer imperialistischen Vorherrschaft über den nordpazifischen Raum von Russland selbst aufgegeben.
Was bleibt, ist sicher die Faszination dessen, wie weit politische und wirtschaftliche Entscheider von physiogeographischen Realitäten abstrahieren können. Dieses strategische Kalkül bei der Raumabstraktion muss unter modernen Komplexitätsbedingungen bei jedem Diskurs über Raum unterstellt werden. Der darauf aufbauende sozialgeographische Ansatz ist Bassin unbekannt. Allerdings klingen einige Voraussetzungen und Instrumente zur Erzeugung von Raumabstraktionen an: Auf S. 72 verweist er auf die Entstehung des russischen Berufsjournalismus, der sich ab 1830 in vielfältigen Zeitungsgründungen niederschlug und das öffentliche Leben trotz Nikolaus I. Autokratie revolutionierte. Aufgrund der hohen Analphabetenrate der Kreis der "Lesenden" und der "Wissenden" klein, so daß sich bestimmte Meinungen und Stereotypen schnell durchsetzen konnten. Ein solcher Stereotyp war seinerzeit auch der Amur, der ohne großen Wissenshintergrund als Quasi-Exotik kommuniziert wurde. Während der Image- oder Perzeptionsansatz zumindest implizit nach der Abweichung von einer irgendwie zu analysierenden Realität suchen muß, um die Fehlerhaftigkeit oder Richtigkeit eines Images zu prüfen, kann der Begriff der "Raumabstraktion" die Eigendynamik der Argumentation mit dem Räumlichem  in der Kommunikation auch dann abbilden, wenn verdeckt oder ungewollt etwas Irreales metaphorisiert wird, wie etwa das Schlaraffenland,  akardische Landschaft oder eben der sibirische Mississippi. Auch gezielte Desinformation (durch Murav'ev-Amurskij) oder bewußte Zurückhaltung der eigentlich  für die Entscheidung notwendigen Information (Baikal-Amur-Magistrale) kann durch den Bezug auf den Kommunikationsprozeß erklärt werden. Ein derartiges Vorgehen würde es gestatten, die Annexion des Amur- und des Ussuri-Gebiets ohne weitreichende Prämissen über nationalistische und imperialistische Ideologie abzuhandeln.  Sie wäre dann als Ergebnis des regionalen Diskurses in Irkutsk, der Hauptstadt Ostsibiriens, zwischen administrativen, militärischen, wirtschaftlichen und journalistischen Entscheidern darzustellen, der von Murav'ev angeführt und umgesetzt wurde. Diese Modell einer  dezentral -  also nicht in der Hauptstadt St. Petersburg - getroffenen Entscheidungsfindung bietet sich übrigens auch für die Politik des Generals Kauffmann in bezug auf die russische Besetzung Mittelasiens an. Daß Historiker, Geographen wie Semenov-Tiens&anskij (S. 203, 269), Didaktiker und Schriftsteller wie Dostojewskij dann 20 Jahre später versuchen, die Ereignisse in eine leicht verstehbare Logik zu rücken und für ihre nationalistischen Konstrukte zu nutzen, ist bereits eine Interpretationsfrage. Sie sollte nicht mit den Entscheidungs- und  Kommunikationsprozessen um 1850/60 verwechselt werden, die Bassin so eindrucksvoll belegt. Insofern eilt der Buchtitel "Imperiale Visionen" und "nationalistische Imagination" seiner Objektzeit voraus. Immerhin bewahrt der Image-Ansatz Bassin vor neogeopolitischen Unsäglichkeiten und Plattheiten, die die neuere angelsächsische und russische historisierende Geographie so nachhaltig durchseucht haben. Nicht zuletzt unter diesem Aspekt hebt sich das äußerst lesenswerte Buch von anderen Werken dieses Genre positiv ab.
Autor: Helmut Klüter

Quelle: Geographische Zeitschrift, 88. Jahrgang, 2000, Heft 2, Seite 127-129