David Harvey: Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution. Berlin: Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp 2657) 2013. 283 S.
Mit Superlativen hat der Verlag nicht gespart, um die deutschsprachige Ausgabe von David Harveys 2012 im englischen Original unter dem Titel „Rebel Cities“ erschienenen Buches zu bewerben. Von einem „der einflussreichsten Sozialwissenschaftler der Gegenwart“ ist im Klappentext die Rede, als „meistzitierter Geograf der Welt“ wird er gar bezeichnet. Soviel roter Teppich wäre wohl gar nicht nötig gewesen, denn David Harvey ist mit seinen kapitalismus- und globalisierungskritischen Arbeiten international in der Tat weit über die Geographie hinaus längst so bekannt, dass sein fachlicher Hintergrund manchmal schon wieder in Vergessenheit gerät. Das freilich wäre bedauerlich, bietet das vorliegende Buch doch auch für die geographische Forschung zahlreiche interessante Anknüpfungspunkte. Das konzeptionelle Instrumentarium, mit dem der Autor operiert, ist weitgehend aus seinen früheren Publikationen bekannt (vgl.u. a. das grundlegende Werk „The limits to capital“ 1982 und „The new imperialism“ 2003). Es geht vor allem um raum-zeitliche Strategien zur Bewältigung kapitalistischer Überakkumulationskrisen, die Harvey unter dem Begriff des spatial fix zusammenfasst. Dazu zählen Kapitalanlagen im städtischen Immobiliensektor und in Infrastrukturbauten, allerdings auch räuberische Methoden der Wertaneignung („Akkumulation durch Enteignung“).
Ausgehend von Henri Lefebvres wichtigem Essay „Le droit à la ville“ (1967) versteht Harvey unter dem „Recht auf Stadt“ das kollektive Vermögen, Urbanisierungsprozesse zu gestalten und mitzuentscheiden. Dieses Recht zielt auf eine „größere demokratische Kontrolle über die Produktion und Nutzung des Kapitalüberschusses“, der Urbanisierung erst ermöglicht (59). Die weltweit zu beobachtenden urbanen Sozialbewegungen lassen sich dann als Antwort auf die kapitalistische Umgestaltung der Städte interpretieren, als Versuch, das „Recht auf Stadt“ gegen Tendenzen zu sozialräumlicher Polarisierung, zur Verdrängung und Enteignung von Bewohnern in renditeträchtigen Lagen, z. B. durch Gentrifizierung und manchmal auch mit offener Gewalt, zu verteidigen. Der Zusammenhang zwischen städtischen Sozialbewegungen und Urbanisierung bildet den roten Faden, mit dem die verschiedenen Themen der vorliegenden Publikation verwoben werden. Während im ersten Teil grundsätzliche Aspekte der urbanen Ökonomie verhandelt werden, widmet sich der zweite, eher handlungsorientierte Teil den Strategien kapitalismuskritischer urbaner Sozialbewegungen. Zwei Themenfelder sollen hier hervorgehoben werden, denen aus (wirtschafts-)geographischer Sicht erhebliches heuristisches Potenzial eignet: zum einen der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung, Kapitalakkumulation und städtischem Immobilienmarkt und zum anderen das Verhältnis von Stadtraum und sozialen Bewegungen.
Städtebauliche Aktivitäten sind nach Harveys Analysen ein entscheidendes Mittel zur Absorption von Kapital und Arbeit, für die sich zum gegebenen Zeitpunkt keine anderweitige rentierliche Anlage anbietet. Damit wirken sie dem Problem der Überakkumulation und möglichen daraus resultierenden Krisen entgegen. Immobilienanlagen sind sehr langfristige Aktivitäten, die der Vermittlung durch den Staat und nicht zuletzt das Finanzkapital bedürfen – und es wohnen ihnen immer spekulative Momente inne, was sie besonders krisenanfällig macht. Aus der Krisenlösung kann, mit zeitlicher und räumlicher Verschiebung, ein Krisenauslöser werden, dann nämlich, wenn die Immobilienblase platzt. Diese potenzielle Gefahr sieht David Harvey derzeit vor allem im Zusammenhang mit dem gewaltigen Urbanisierungs- und Infrastrukturboom in der VR China. Darüber hinaus ist Urbanisierung aber auch ständige Produktion städtischer Gemeingüter und ebenso ständige Aneignung und Zerstörung dieser Gemeingüter durch die private Verfügung über städtischen Boden. Städtische Bodeneigentümer nutzen ihre Monopolmacht, um möglichst hohe Renten zu erzielen, und an dieser kapitalistischen Umgestaltung des Stadtraums entzünden sich wiederum urbane Sozialbewegungen.
Städtische Sozialbewegungen sind, nach einer von Harvey übernommenen Formulierung Lefebvres, „heterotop“: Sie sind fragmentarisch, vielfältig nach Zielen und Bedürfnissen, eher desorganisiert und flüchtig als fest verwurzelt. Sie schaffen unterschiedliche soziale Möglichkeitsräume, die aber in Momenten kollektiven Handelns, in Rebellionen und Aufständen etwa (wie z.B. im „arabischen Frühling“), zusammenfließen können. Und dann finden sie ihren Ausdruck an zentralen innerstädtischen Orten, die mit neuer symbolischer Bedeutung aufgeladen werden. Es sind aber nicht einfach Orte, an denen sich Menschen zusammenfinden, es sind vielmehr – funktional der antiken griechischen agora vergleichbar – Plätze, auf denen man sich bewusst versammelt – um sich zu beraten, zu debattieren und sich politisch zu organisieren. Auf der Liste städtischer Plätze, denen in der jüngeren Vergangenheit solche Funktionen zugekommen sind, stehen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Namen wie Maidan (Kiew), Tahrir (Kairo), Taksim (Istanbul) oder Zucotti Park (New York). Das Urbane wirkt hier als wichtiger Schauplatz für politisches Handeln, und die tatsächlichen Eigenschaften eines Ortes spielen dabei eine bedeutende Rolle (107).
„Rebellische Städte“ stellt eine sicher etwas gewöhnungsbedürftige Kombination aus wissenschaftlicher (wirtschafts)geographischer Analyse und politischer Streitschrift dar. Auch wer Harveys marxistischen Standpunkt und seine politischen Schlussfolgerungen nicht teilt, dürfte die darin enthaltenen Anknüpfungspunkte für eine engagierte humangeographische Forschung schätzen – ein ausgesprochen anregendes Buch!
Helmut Schneider, Duisburg-Essen
Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg.58 (2014) Heft 2-3, S. 185-186
Vgl.auch den Besprechungsaufsatz: Claus-C. Wiegandt: Stadtentwicklung zwischen Rebellion und Aushandlung
https://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1896-stadtentwicklung-zwischen-rebellion-und-aushandlung
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