Jean-Louis Guigou: Ein ehrgeiziges Ziel für Frankreich. Zur Gestaltung von Raum und Zeit. Bern 2000. 173 S.
Wenn das Buch des Leiters der DATAR, der zentralen Raumordnungsbehörde Frankreichs, "Une ambition pour le territoire" (Paris 1995), ins Deutsche übertragen wird, zudem noch unter einem so anspruchsvollen Titel, dann darf man entsprechende Ansprüche stellen. In der Tat ist sein Ziel "ehrgeizig", denn er will dem Land, um es vor dem Auseinanderbrechen zwischen Globalisierung und traditionellem Pariser Zentralismus zu retten, eine völlig neue, moderne, europagerechte Raumordnung verleihen, will räumliche Organisation und Produktionsstrukturen in Einklang bringen (S. 101). Zu verstehen, was genau er damit meint, und ihm in seiner Argumentation zu folgen, fällt allerdings nicht leicht. Zum einen liegt dies an einer Aufreihung zahlreicher visionärer Ziele, die aber nie wirklich und planungsreif präzisiert werden: institutionelle Erneuerung, Modernisierung der Raumstrukturen, Neuorganisation der "fordistischen Arbeitsteilung" zwischen Paris und Provinz, neues Bildungssystem etc. Vielleicht liegt es auch an dem - durchaus respektablen - emotionalen, patriotischen Engagement, das den Verfasser zu einer allzu spontanen Niederschrift des Buches getrieben haben mag. So vielleicht erklären sich die undeutliche Gliederung, die ständige Mischung von allgemeinen und frankreichbezogenen Feststellungen, zusammenhanglose schlagwortartige Aufzählungen (S. 90 ff), häufige Wiederholungen, oft von allzu Bekanntem, oder nebulöse Allgemeinplätze ("Raum und Zeit sind vergessene Dimensionen, die wir rehabilitieren müssen" (S. 110)), und das bei völliger Vernachlässigung von Quellenangaben.Zusätzlich erschwert wird die Lektüre durch die Übersetzung. Wenn bewußt Wert darauf gelegt wurde, möglichst nahe am französischen Text zu bleiben, um den "sicheren Verlust der persönlichen Ausdrucksweise des Autors" (S. 5) zu vermeiden, dann können seltsame Gebilde entstehen, z.B. "lokale Institutionen... haben die Orte zu errichten, an denen die Menschen sich sozialisieren, ... damit keine Horden, kein Tribalismus ... entstehen" (S. 127). Häufig leidet auch die Verständlichkeit, mit Verwechslungen (z.B. "Verdichtungsraum", vermutlich für "agglomération", womit schon eine Mittelstadt bezeichnet werden kann), mit der unklaren Gegenüberstellung von "Raum" und "Gebiet" ("schlüssige Gebiete", u.a.S. 115), bis hin zu Fehlern, wie "Mutterland" für das doppeldeutige "métropole", obwohl hier die "Metropole" Paris gemeint ist (S. 164).
Nicht zuletzt war man bei der Edition der deutschen Ausgabe vielleicht etwas zu hastig, was sich in zahlreichen Druckfehlern äußert oder in der unreflektierten Übernahme einer Karte des "zentralisierten Mutterlandes Frankreich im 19. Jahrhundert" (S. 163), die eindeutig den Personenverkehr auf der Eisenbahn in jüngster Zeit darstellt - einschließlich TGV-Strecke zwischen Lyon und Paris... Überdies werden Namen und Begriffe genannt, die die Herausgeber hätten erläutern müssen: z.B. Legrand (der geistige Vater des von Paris ausstrahlenden Eisenbahn-"Sterns"), die "Freycinet'sche Hierarchie" (die Anbindung des gesamten Territoriums an diesen Stern, nach dem verantwortlichen Verkehrsminister 1877-79), die "dreißig glorreichen Jahre" ("les trente glorieuses", die Hochkonjunktur nach dem zweiten Weltkrieg) oder das "pays", eine historisch gewachsene, aber inoffizielle Raumeinheit von 50-100 Gemeinden, die erst auf S.123 erklärt wird, obwohl sie in der Gesamtkonzeption eine wichtige Rolle spielt.
Versucht man nun, die wichtigsten Inhalte und Ziele herauszuschälen, dann stößt man auf eine gewisse innere "patriotische Zerrissenheit" des Autors: Er schwankt zwischen Visionen für ein fortschrittliches, harmonisch funktionierendes Frankreich in einem künftigen Europa und seinen persönlichen historisch-kulturellen Bindungen an die jahrhundertealten zentralistischen Strukturen. So sieht er zum einen die Notwendigkeit der Einpassung in die EU, aber die "Raumordnungspolitik wird stets allein der nationalen, regionalen oder lokalen Zuständigkeit vorbehalten bleiben" (S. 21). Er will einen neuen Staat in Anpassung an Europa, er will die Dezentralisierung - aber "ohne Föderalismus" (S. 94). Einerseits schwört er dem Übergewicht von Paris ab, beklagt die Überlastung der Hauptstadt, aber ebenso oft wettert er gegen das "unrealistische Modell von der ‚blauen Banane'" (S. 138), die sich ja an Paris vorbei biegt, und fordert stattdessen ein Europa der Kerne, darunter bezeichnenderweise London-Düsseldorf-Paris. Zwar sei die "voluntaristische Raumordnungspraxis ... tief in der französischen Kultur verankert" (S. 34), die Entwicklung müsse jedoch die Diversität der Gebiete respektieren und heute habe die Dezentralisierung "den Gebietskörperschaften eine wichtige Rolle übertragen" (S. 36). Andererseits unterstützt er die Intervention des Staates in der Raumordnung sowie eine Dekonzentration, d.h. eine Auslagerung weiterhin zentral gesteuerter Kompetenzen in die Provinz, was dort wohlgemerkt keine Stärkung der lokalen Zuständigkeiten, also keine Dezentralisierung bedeutet. Zu Recht prangert er an, daß durch Misswirtschaft infolge der unveränderten Zersplitterung in 36.673 Gemeinden Kosten in dreistelliger Milliardenhöhe entstehen (S. 39) und durch die mangelhafte Zusammenarbeit nur die monozentrale Metropolenbildung, also Paris, gefördert wird (S. 63). Doch sollen alle Kommunen "als unzerstörbare Einheiten bestehen bleiben, als Grundlage der lokalen Demokratie" (S. 132), (obwohl diese in den weitaus meisten, winzigen Kommunen nur noch eine Illusion ist). Bezeichnend ist auch, daß der Autor, bei permanenter Betonung der Rolle des Staates, gerade an den kleineren Raumeinheiten festhält, vom Departement über das "pays" bis zur Gemeinde (S. 153) - verrät sich hier nicht die klassische zentralistische Strategie des divide et impera? Umgekehrt ist nicht zu übersehen, daß er der erst 1982 zur Gebietskörperschaft erhobenen "région" ablehnend gegenübersteht, eine in Frankreich verbreitete Haltung, die hier die doppelte Gefahr der Föderalisierung und des Brüsseler Einflusses wittert und deshalb ein "völliges Auseinanderbrechen des Staates" befürchtet (S. 158). Es mag zwar verwundern, daß er die 22 bestehenden Regionen zu fünf Großregionen "europäischen Zuschnitts" (153), also mächtigeren Einheiten, zusammenlegen will. Jedoch soll dies auf Initiative des Staates und "missionsgebunden" an ihn erfolgen (S. 160), und dadurch - das sagt er natürlich nicht - würde historisch verwurzelten, identitätsstiftenden Regionen wie der Bretagne, also potenziellem Partikularismus, der Boden entzogen.
Wie in Frankreich häufig anzutreffen, zeigt sich die gespaltene Haltung des Autors auch darin, daß er zwar strikt gegen den Föderalismus auftritt, aber immer wieder die dezentralen Strukturen des "rheinischen Modells" bzw. Deutschlands als leuchtendes Vorbild hinstellt. Wobei die Begründung, die gleichmäßigere Verteilung der deutschen Bevölkerung sei "insbesondere auf die Maßnahmen der Alliierten zurückzuführen, die 1945 das Wachstum der Stadt Berlin begrenzten und untersagten" (S. 34), den entscheidenden Grundzug in Deutschlands historischer Raumentwicklung schlicht ignoriert. Zugleich ist diese Begründung aber auch symptomatisch für eine Mentalität, die sich nur eine dominierende Metropole vorstellen kann! In einer geradezu deterministischen Haltung glaubt der Verfasser, ohne zu übertreiben, die Grundlage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands sei seine Raumordnung (S. 38), da der knappe Raum zu verstärkten Produktivitätsanstrengungen geführt habe. Schließlich seien die "bekannten Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit dem Raum auseinandergesetzt haben, ausnahmslos Deutsche: von Thünen, Weber, Lösch, Christaller usw." (S. 37). So entstand das deutsche Schlaraffenland, wo kein "Flecken ... mehr als 25-30 km von einer Universität oder Oper entfernt ist", ohne problembelastete Vorstädte, ohne "großflächig stark verdichtete Räume..., dafür aber Grüngürtel und Freizeitflächen zwischen den Siedlungsräumen", ein Land, wo auf "alten Industriebrachen auf einem dichten Sockel aus Klein- und Mittelbetrieben und Firmensitzen und Großunternehmen ... eine gesunde Wirtschaft geschaffen" wird - auch wenn er einräumt, daß all dies teilweise idealisiert ist und manchmal durch die Deutschen selbst in Frage gestellt wird (S. 38 f).... Doch merke: Bundesländer oder "Stadtstaaten" sollten in Frankreich keinesfalls kopiert werden!
Wie nun dieses für 2015 gesteckte "ehrgeizige Ziel", zumal angesichts seiner Komplexität, seiner Unklarheiten und Widersprüche, in der nackten politischen Realität auch durchgeführt werden könnte, bleibt anderen überlassen, nicht zuletzt der Fantasie des Lesers.
Autor: Wolfgang Brücher