Sebastian Müller u. Rita A. Herrmann (Hg.) 1999: Inszenierter Fortschritt - die Emscherregion und ihre Bauausstellung. Bielefeld. 135 S.

1989 war die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park angetreten, den Strukturwandel im nördlichen Ruhrgebiet zu fördern. Mit den unterschiedlichsten Projekten sollte ein Beitrag zur ökologischen, ökonomischen, sozialen und städtebaulichen Modernisierung der Region geleistet werden. Dabei verstand sich die IBA immer auch als "Werkstatt für die Zukunft von Industrieregionen" (IBA-Memorandum von 1996) und hatte damit den Anspruch formuliert, ein gesamtregionales Entwicklungsprogramm mit Modellcharakter für andere altindustrielle Regionen zu sein. Im Herbst 1999 ist die IBA zu Ende gegangen. Auf der Abschlußveranstaltung zog der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und heutige Bundespräsident Rau eine geradezu enthusiastische Bilanz. Im Ruhrgebiet sei Zukunft gebaut worden. Die Menschen hätten einen neuen Stolz auf die Region und ein neues Heimatgefühl entwickelt, sie seien "Feuer und Flamme" (so der Titel einer viel beachteten Ausstellung zur Geschichte des Ruhrgebiets im von der IBA ausgebauten und inzwischen berühmt gewordenen Oberhausener Gasometer) für das Revier.
Andernorts wird nüchterner Bilanz gezogen. So etwa in dem hier vorliegenden Buch, das 15 Aufsätze umfaßt und die unterschiedlichen Themenbereiche und Aufgabenfelder der IBA Emscher Park kritisch zu würdigen sucht.
Schon der Titel verspricht ein spezielles Programm: "Inszenierter Fortschritt". Scheint hier nicht eine bestimmte Position der Autoren durch, die es ihrerseits zu hinterfragen gilt? Die IBA Emscher Park wird zwar mit "Fortschritt" assoziert, dies scheint aber kein richtiger zu sein, sondern ein irgendwie künstlich hergestellter, eben ein bloß "inszenierter". Fortschritt findet zwar statt (ob er positiv oder negativ und nach welchen Kriterien überhaupt zu bewerten ist, bleibt dahingestellt), aber eben "inszeniert", auf der Bühne, nicht im "richtigen" Leben. Nach Meinung einiger Autoren des Buches ist der Fortschritt im Emscherraum eher für das Publikum arrangiert "denn (...) wirklich eingetreten oder gar nachhaltig" (Umschlag-Text). Sie halten es weder für "theoretisch korrekt, noch regionalpolitisch zweckmäßig, wenn die Dimensionen einer ökonomischen und ökologischen Erneuerung der Region beliebig als Etikett vergeben werden" (ebd.). Dem "Etikettenschwindel" einer erfolgreichen Bewältigung des Strukturwandels im nördlichen Ruhrgebiet setzen sie ihre Alternativen entgegen:
Hermann Bömer entwickelt eine Alternativökonomie für einen "sozialökonomischen New Deal" und eine Skizze eines Beschäftigungsprogramms für das Ruhrgebiet (35 f.). Klaus Kock zeigt auf, wie "soziale Innovation durch regionale Kooperation" gelingen soll (43 f.). Manfred Walz zeichnet ein Konzept zur regionalen Rückgewinnung von Landschaft unter Einschluß künstlerischer Gestaltung (86 f.). Und Peter Apel umreißt Kriterien einer kinderfreundlichen Siedlung und einen Ansatz zur partizipativen Planung mit Kindern (124 f.)
Nun sind die Bemühungen um Alternativen zur herkömmlichen Planungspraxis und zur regionalen Strukturpolitik sicherlich diskussionswürdig. Nur sind sie nicht aussagekräftig, will man die Frage beantworten, wie die IBA als planungspolitisches Instrumentarium des Strukturwandels im Ruhrgebiet funktioniert. Erst recht bereitet die Konstruktion alternativer Vorstellungen keine geeignete Plattform zur Beurteilung der Frage, wie erfolgreich die IBA Emscher Park im nördlichen Revier gewirkt hat. Das Aufzeigen von Alternativen scheint mir in diesem Zusammenhang eher überflüssig und gehört daher sicherlich nicht zu den Stärken des Buches. Allerdings bieten die 15 Aufsätze auch eine Reihe von Argumenten, die eine Kritik der IBA Emscher Park deutlich besser fundieren.
Soll der Erfolg der Internationalen Bauausstellung nach den 10 Jahren ihrer Tätigkeit bilanziert werden, so kann dies im Vergleich mit den ursprünglich formulierten Zielen der IBA geschehen. Wie weit ist die ökologische, ökonomische, soziale und städtebauliche Erneuerung vorangekommen? Die Bilanz ist - folgt man den Autoren - ernüchternd, der Strukturwandel im nördlichen Ruhrgebiet wurde nicht geschafft.
"Gemessen an den Indikatoren Arbeitslosigkeit und Armut hat das Ruhrgebiet trotz der großen Anstrengungen auf dem Gebiet des Rückbaus der Montanindustrie sowie einer streckenweise vorbildlichen regionalen Strukturpolitik den Abstand zu den anderen Verdichtungsräumen nicht verringern können ... die Abkoppelung der Beschäftigungsentwicklung im Vergleich zu den anderen Verdichtungsräumen in Westdeutschland (konnte) nicht verhindert" (werden) (Bömer, 30). Deutlich wird der negative Abkoppelungstrend auch in der Wohnungswirtschaft. In den 90er Jahren lag die Wohnbautätigkeit im Ruhrgebiet insgesamt deutlich unter dem übrigen Nordrhein-Westfalen. Die Kommunen an der Emscher erreichten dabei nur die Hälfte des Wohnraumzuwachses wie er im Landesdurchschnitt anzutreffen ist. Dieser Trend ist nach Meinung des Autors unschwer als Zeichen für einen anhaltenden wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der Region und für ihre mangelnde Attraktivität als Wohnstandort zu interpretieren (Müller, 92 f.).
Auch die ökologische Bilanz der Internationalen Bauausstellung Emscher Park in bezug auf die Freiflächenentwicklung im nördlichen Ruhrgebiet fällt nicht positiv aus. "Der Wiederaufbau von Landschaft (durch einzelne IBA-Projekte, J.B.) ging einher mit einer umfangreichen Freiraumvernichtung. Der gesamte Freiraum ist um fast 1.800 ha geschrumpft - als ob zwischen 1989 und 1997 im Emscherraum eine Stadt so groß wie Bergkamen mit seinen mehr als 40.000 EinwohnerInnen aus dem Boden gestampft worden wäre. Die IBA hat den Freiraum nicht nur nicht vermehrt, sondern noch nicht einmal verteidigt." (Häpke, 66) Die Region als Ganzes befindet sich in bezug auf wesentliche Parameter in einem offensichtlich nicht aufzuhaltenden negativen Abkoppelungsmechanismus. Der IBA scheint es nicht gelungen zu sein, in den von ihr bearbeiteten Leitprojekten den insgesamt negativen Trend in der Regionalentwicklung umkehren oder auch nur stoppen zu können. Stattdessen haben die IBA-Projekte ein Entwicklungsmuster verstärkt, das Markus Wissen mit einem Leopardenfell vergleicht (9 f., vgl. auch den Aufsatz von S. Krätke in diesem Heft). In den altindustriellen Rückzugsgebieten entstehen Inseln der Prosperität, die auf engstem Raum die Profilierung sozialräumlicher Gegensätze markieren. Neben Räumen des Wachstums, die eigenständige Entwicklungspfade einschlagen, entstehen große Teilregionen des ökonomischen, sozialen und ökologischen Niedergangs. Diese negative Entwicklung kann in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Planungsmodell gebracht werden, welches die IBA verkörpert. Thomas Rommelspacher (21 f.) stellt die "Planung durch Projekte" als ein zentrales Element der IBA-Strategie heraus. Der systematische Projektbezug treibe die Fragmentierung der Region weiter voran. Er biete viele systematische Anreize für interkommunale Konkurrenz und begünstige eine Kirchturmspolitik, die regionale Konzepte und Interessen kurzfristigen lokalen Gewinnen unterordne. In einem derart fragmentierten Kräftefeld könne eine Strategie, die auf den Königsweg einer die Probleme zergliedernden Projektbearbeitung setze, kaum für sich beanspruchen, einer nachhaltig innovativen regionalen Strukturpolitik den Weg zu bereiten.
Nach 10 Jahren Projektlaufzeit können allerdings Zweifel aufkommen, ob die IBA Emscher Park dieses Ziel denn überhaupt je verfolgte. Markus Wissen erinnert daran, daß der Projektansatz mehr oder weniger die einzige Möglichkeit war, Strukturpolitik überhaupt umzusetzen: "Die Kritik am Projektansatz verschließt sich (...) meist der Einsicht, daß erst das Fehlen eines struktur- und raumordnungspolitischen Konzepts es der IBA ermöglicht, überhaupt etwas zu bewirken. Mit anderen Worten: Der Verzicht auf politikfeld-übergreifende Planungen ist ebenso Ausdruck für die Begrenztheit der IBA wie Bedingung ihres Erfolgs (...). Es erlaubt ihr, als profilbildendes Element auch an einem Standort zu wirken, dessen dominanter Entwicklungsweg ihre eigene Programmatik konterkariert. Der kritische Impuls geht dabei zwar verloren, und die Vision eines qualitativen Entwicklungsmodells tritt in den Hintergrund. Gleichzeitig werden jedoch konzeptionell widersprüchliche Strategien von Regionalentwicklung politisch kompatibel gemacht. Die IBA erweist sich gewissermaßen als ‚vielseitig verwendbar'." (15)
Die IBA scheint sich also aus gutem Grund auf das "Machbare" in der Region konzentriert zu haben, wobei sie der Aussenwirkung, der symbolischen Bedeutung und der Bildersprache ihrer Projekte immer auch große Aufmerksamkeit schenkte. Nach 10 Jahren Internationaler Bauausstellung kann man zu der Auffassung gelangen, daß die IBA Emscher Park den materiellen Strukturwandel im nördlichen Ruhrgebiet nicht grundlegend fördern konnte. Sie hat vielmehr dem Betrachter neue Deutungen und Interpretationsmuster von Industriegeschichte und nachindustrieller Zukunft an die Hand gegeben - das ist nach Meinung des Rezensenten wohl das wesentliche Ergebnis, das dem hier besprochenen Buch entnommen werden kann. Wenn diese Strategie der IBA dennoch als "inszenierter Fortschritt" im oben diskutierten Sinn von einigen Autoren kritisiert wird, so wird von ihnen verkannt, daß die Aufgabe der IBA zu einem großen Teil als Identitäts- und Sinnarbeit für die Region - deren Vergangenheit sie abstreifen will und deren Zukunft noch nicht eindeutig bestimmbar ist - begriffen werden kann und daß selbst ein "inszenierter" Fortschritt immer noch ein Fortschritt ist. Die Grenzen dieses Fortschritts aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst der in diesem Buch vertretenden Autoren.
Autor: Jörg Becker

Quelle: Quelle: geographische revue, 2. Jahrgang, 2000, Heft 1, S. 80-83