Dietrich Ebeling (Hg.): Historisch-thematische Kartographie: Konzepte - Methoden - Anwendungen. Bielefeld 1999. 239 S.
Die Geschichtswissenschaft nutzt Karten, um Erkenntnisse, Forschungsergebnisse und Interpretationen einer breiteren Öffentlichkeit transparent zu machen. An dieser Symbiose von Geschichte und Kartographie hat auch das digitale Zeitalter nichts geändert, zumal historischer Erkenntniszuwachs heute meist durch kleinräumige Differenzierung erfolgt. Komplexe Zusammenhänge und Raumbezüge lassen sich durch gute Karten in einer Schnelligkeit verdeutlichen, die bei rein tabellarischer und textlicher Darstellung unerreichbar bleibt. Zugleich haben Karten aber eine suggestive Überzeugungskraft, die oftmals vergessen läßt, wie unzureichend die Quellenlage, wie fragwürdig die der Darstellung zugrundeliegende Interpretation ist. Der notwendige Arbeitsaufwand bei der Erstellung von Kartengrundlagen ist zudem durch die Digitalisierung keinesfalls geringer geworden. Dies birgt die Gefahr, daß wissenschaftliche Erkenntnis sich den Vorgaben einmal erbrachter und dann nurmehr fortgeschriebener Grundlagen digitaler Kartographie anpassen muß, will sie durch dieses Medium noch dargestellt werden.Im Februar 1998 fand an der Universität Trier eine Fachtagung statt, deren Referate im vorliegenden Band veröffentlicht worden sind - der Versuch einer aktuellen Bestandsaufnahme. Die großzügige Ausstattung mit Farbkarten ermöglicht dem Leser, sich ein eigenes Bild von den Ergebnissen - und Defiziten - der vorgestellten Methoden und Techniken zu machen.R. PLÖGER beschreibt die Möglichkeiten von GIS für eine mit ungeheuren Datenmengen operierende ganzheitliche und flächendeckende Inventarisierung der Landschaftselemente. Das Problem der Bewältigung großer Informationsmengen ist (derzeit noch) nicht gelöst, visionär daher die Idee eines digitalisierten ,Kulturlandschaftskatasters der Bundesrepublik Deutschland'.
Historische Karten dienen auch der Identitätsstiftung. G. PÁPAY schildert den Entstehungsprozeß des 1990/1996 ausschließlich mit Computerkartographie erstellten Geschichtsatlas Mecklenburg-Vorpommern.
D. SCHOTT stellt das Historische Stadtinformationssystem HIST vor. Hier wurde die Elektrifizierung von Darmstadt mit Daten zur Sozial-, Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur verknüpft.
An Beispielen aus dem projektierten Atlas zur Verkehrsgeschichte Deutschlands und angrenzender Länder weist A. KUNZ auf die Bedeutung der Verfügbarkeit digitalisierter Grundkarten hin.
M. DENZEL überrascht mit der These, im Bereich der thematischen Kartographie habe die Theorie der zentralen Orte herausragende Bedeutung und eigne sich vorzüglich für die Visualisierung von Netzstrukturen bei wirtschaftshistorischen Fragestellungen. Doch diese Gleichsetzung von Theoriesetzung und historischen Realitäten ist höchst bedenklich - der Verdacht drängt sich auf, daß die gelobte "Einfachheit und Klarheit" des Systems der zentralen Orte vornehmlich dazu dient, Defizite der Quellenlage zu kaschieren. Alle Beispiele, in denen jeweils Karten mit groben Sektorgrenzen verziert werden, zeigen nur, daß Christallers Theorie weder zur Erklärung frühneuzeitlicher Handelszentrenverlagerung noch zur Verteilung von Jahrmärkten im Harzvorland bzw. in Kurbaiern beiträgt. Der Einfachheit halber finden lediglich Städte, hingegen weder Rechtsräume, nichtstädtische Wirtschaftsaktivitäten (Klöster in Bayern!, Landhandwerk) noch Verkehrsstrukturen Berücksichtigung - die Grenzen von ,Wirtschaftsräumen' um Städte werden stur geometrisch gezogen und dann ggf. mehr recht als schlecht mit den historischen Gegebenheiten in Übereinstimmung gebracht. Solcherlei Suggestivskizzen sah man einst in Haushofers ,Zeitschrift für Geopolitik'; auch hier dienen ,Karten' dazu, losgelöst von der realen Komplexität "räumliche Zusammenhänge plakativ zu visualisieren" (S. 80). Das darf aber nicht Zweck historisch-thematischer Kartographie sein.
Welch hohe Qualitäten und Möglichkeiten digitale Kartographie bieten kann, zeigt N. WINNIGE am Beispiel von Alphabetisierung und Elementarbildung im Bereich zwischen Minden, Marburg und Magdeburg um 1810. Hierzu wurden Zivilstandsregister des napoleonischen Königreiches Westphalen - insgesamt 70000 Einträge - ausgewertet. Ausführlich wird auf das Desiderat einer digitalen Historischen Grundkarte eingegangen, die zur Darstellung auch anderer räumlich fein differenzierter Forschungsergebnisse als offenes Datenbanksystem konzipiert sein sollte.
J. BATEN überprüft Zusammenhänge von Variablen (Körpergröße von Rekruten/Milchproduktion der Region) mit Hilfe der Residuenanalyse. Warum dies ein Beispiel für die "fruchtbare Synthese von Computerkartographie und multipler, statistischer Analyse" (S. 109) ist, bleibt jedoch unklar - von Computerkartographie ist im ganzen Beitrag sonst keine Rede. Karten dienen hier lediglich zur räumlichen Verortung von Unregelmäßigkeiten und könnten angesichts des überschaubaren Datenumfanges mit weniger Aufwand konventionell erstellt werden.
Die Karten von J. NAGEL und M. SCHMIDT über die Raumstrukturen der Frühindustrialisierung im Rheinland erinnern an (ganz frühe) Anfänge der Computerkartographie: Darstellung der Flächennutzung mittels verschiedenfarbiger Quadrate, die bei einer Mindestgröße von 250 ha keinerlei Rücksicht auf etwaige administrative und naturräumliche Grenzen nehmen. Dem Ziel einer längerfristigen Nutzung als Kartengrundlage dienlicher wäre sicher auch hier die von WINNIGE zuvor angeregte Erstellung einer digitalen Grundkarte (mit Eintrag von Ödland und Waldungen).
M. PETERS zeigt, daß der stets beklagte Arbeitsaufwand auch gute Seiten haben kann, etwa indem stellenlose Architekten in der Schweiz längerfristig mit der zusammenhängenden Grundrißaufnahme historischer Stadtkerne beschäftigt werden. Das hat aber nichts mit thematischer Kartographie zu tun.
Die letzten Beiträge beziehen sich auf praktische Probleme: das Überführen von Informationen einer in schlechtem Erhaltungszustand befindlichen historischen Karte in ein digitales Informationssystem; Wege (und Schwierigkeiten), historische Karten modernen Koordinatensystemen anzupassen; Raumzeitliche Datenbanken; das Datenmanagementsystem ARASS, das verstreut und zumeist schwer zugängliche Datenbestände der Forschung zugänglich machen soll.
Fazit: Eine gute Übersicht über den Stand der gegenwärtigen Historisch-thematischen Kartographie mit Beiträgen unterschiedlicher Qualität und intellektueller Tiefe. Bei der Vielfalt der Beiträge dürfte für alle denkbaren Nutzergruppen etwas Interessantes oder Neues zu finden sein. Keinesfalls
jedoch ist es ein Lehrbuch.
Autor: Thomas Schwarze