Bettina Hunecke: "Im Augenblick zieht sich jeder in sein Nest zurück". Persönliche Netzwerke und Ethnizität. Krisenbewältigungsstrategien von Frauen im ländlichen Masuren (Nordostpolen). Münster (Bielefelder Geographische Arbeiten, Band 2). 248 S.

Der Transformationsprozeß in den ehemals sozialistischen Ländern wird nach kurzer Sprachlosigkeit in der wissenschaftlichen Welt umfangreich diskutiert und beschrieben. Es zeichnet sich jedoch ab, daß es in diesem Zusammenhang deutliche Bevorzugungen gibt - es interessiert die politische und ökonomische Gesamtsituation eines Landes, die Lage seiner Städte und Industriezentren; für ländliche Räume, insbesondere dann, wenn sie sich noch durch eine periphere Lage auszeichnen, gibt es eine eher kleine Lobby. Zunehmend werden solche Räume mit ihren Problemen als marginal wahrgenommen, sowohl im nationalen als auch internationalen Maßstab.
Schon aus diesem Grunde ist es als sehr verdienstvoll anzusehen, daß sich die Autorin der vorliegenden Publikation einem solchen Gebiet zuwendet und in einem durch Vergangenheit und Gegenwart recht sensibel anzusehendem Umfeld eine umfangreiche Feldforschung durchführt. Die besondere Konstellation des untersuchten Dorfes Mazury in Nordostpolen ist einmal darin zu sehen, daß es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zur deutschen Provinz Ostpreußen gehörte und daß es zum anderen gegenwärtig eine multiethnische Bevölkerung hat, die aus Polen, Ukrainern und Deutschen besteht, auch noch unterschieden durch ihre Konfession.
Die Autorin erläutert zunächst ihr theoretisches Konzept - die Theorie der sozialen Netzwerke in ihrer Bezogenheit auf die Sozialgeographie. Vor diesem Hintergrund beschreibt sie schlüssig die allgemeine Situation im Nachwendepolen allgemein und am Beispiel des Dorfes Mazury im Besonderen. In einer elfmonatigen Feldarbeit vor Ort ging es darum, die Lebenswege der Frauen im Dorf nachzuzeichnen und einzuordnen. Wie reagieren die Frauen in einem solchen Dorf, in dem das Leben schon zu "normalen" Zeiten nicht einfach war, auf den durch den Transformationsprozeß hervorgerufenen meist drastischen Umschwung in ihren Lebensverhältnissen? Nachvollziehbar wird die auch aus anderen Transformationsstaaten bekannte Tatsache untermauert, daß die Frauen ein deutlich höheres Maß an Belastungen zu tragen haben als die Männer.
Der lange Aufenthalt im Dorf und das Zusammenleben mit den Frauen sowie die Sprachkompetenz ermöglichten der Autorin umfangreiche empirische Forschungen und erlaubten ihr Einsichten, die in einer solchen Geschlossenheit bisher sehr selten vorzufinden waren. Somit stellt die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Auswirkungen des politischen und wirtschaftlichen Wandels auf das Individuum dar und ordnet das Einzelschicksal in den Zusammenhang unterschiedlicher Netzwerktypen ein. Sie beschreibt die inhaltlichen und strukturellen Merkmale sozialer Netzwerke und deren Bedeutung im dörflichen Alltag.
Kritisch sei anzumerken, daß sich durch die den Kapiteln vorangestellten Zusammenfassungen die Gefahr von Wiederholungen nicht ausschließen ließ. Die sechs ausführlichen Biographien sind Einzelschicksale, deren Allgemeingültigkeit durch die sehr zahlreichen Einzelheiten sich etwas verwischt, sie sind nicht ohne weiteres unter dem Begriff "Krisenbewältigungsstrategie" zu subsumieren, eher entsteht der Eindruck von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. In Kapitel 7 (Forschungsergebnisse) erfolgt dann eine zusammenfassende Klärung und Einordnung in größere Zusammenhänge, dadurch wird die Schlüssigkeit der Arbeit in ausgezeichneter Weise wiederhergestellt.    
Autorin: Elke Knappe

Quelle: Erdkunde, 54. Jahrgang, 2000, Heft 4, S. 376