Elmar Kulke (Hg.): Wirtschaftsgeographie Deutschlands. Mit Beiträgen von Adolf Arnold u. a. Gotha und Stuttgart 1998. 563 S.
Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben sich grundlegende Veränderungen in der Wirtschaftsgeographie Deutschlands vollzogen. Die deutsche Wiedervereinigung, die Realisierung des europäischen Binnenmarktes und die zunehmende Internationalisierung und Globalisierung sind die dafür in erster Linie maßgebenden Stichworte. Der von ELMAR KULKE herausgegebene Band unternimmt den anspruchsvollen Versuch, die aktuellen wirtschaftsräumlichen Prozesse und Strukturen vor dem Hintergrund dieser veränderten Rahmenbedingungen wissenschaftlich fundiert, aber allgemein verständlich darzustellen. Zu diesem Zwecke sollen "grundlegende Erkenntnisse der allgemeinen Wirtschaftsgeographie mit regionalgeographischen Untersuchungen" zusammengeführt werden; relevante theoretische Erklärungsansätze sollen mit regionalen Analysen verknüpft und schließlich in einzelnen Fällen "raumwirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen" daraus hergeleitet werden.Entsprechend dieser Zielsetzung ist der Band in zwei Hauptkapitel gegliedert: In einen umfangreichen allgemeinen Teil, der in vier Kapiteln sektorspezifische Erkenntnisse und Entwicklungstendenzen darstellt und mit regionalpolitischen Aspekten abgeschlossen wird, und einen regionalen Teil, der Analysen repräsentativ ausgewählter Wirtschaftsräume enthält.
Die Kapitel des allgemeinen Teils sind von Umfang und Aufbau her recht unterschiedlich. Die deutsche Landwirtschaft wird von ADOLF ARNOLD auf 33 Seiten in fast lexikalischer Form behandelt, wobei die Stichworte von natürlichem Eignungsraum über die Agrarpolitik und die Agrarbetriebstypen bis zu den Flächenerträgen und den Verkaufserlösen der Viehwirtschaft reichen. Der Schwerpunkt liegt deutlich erkennbar bei der Erörterung der Verhältnisse in den alten Bundesländern, der mit der Wiedervereinigung verbundene Transformationsprozeß in Ostdeutschland sowie der dadurch ausgelöste Agrarstrukturwandel kommen leider etwas zu kurz. Auch der künftig möglicherweise an Bedeutung zunehmende tertiäre Leistungsbereich der Landwirtschaft wird nur gestreift. Die Literaturverweise sind auffallend spärlich.
HANS-DIETER HAAS und MANFRED SCHRADER stehen für ihre knappe Darstellung des Bergbaus und der Energiewirtschaft 20 Seiten zur Verfügung. Unter wirtschaftsgeographischen Gesichtspunkten wichtige Aspekte wie Steinkohlesubventionen oder Emissionen durch die Energiegewinnung können daher nur gestreift werden. Dennoch wird dem Leser eine sehr kompetente Problem-Übersicht geboten.
Sehr deutlich von diesen beiden ersten Kapiteln unterscheidet sich der ausführliche Beitrag von WOLF GAEBE über die Industrie. Der Autor widmet gut die Hälfte seiner Ausführungen einem gelungenen Überblick über aktuelle Forschungsansätze der Industriegeographie. Erklärungshypothesen der Mikro- werden mit Ansätzen der Makro-Ebene auf eine sehr instruktive Weise verknüpft. Der Schwerpunkt liegt sicher zu Recht bei der Behandlung der Unternehmensstrategien und den Wirkungen von Internationalisierung und Globalisierung. In angemessener Ausführlichkeit geht GAEBE auf den wirtschaftlichen Strukturwandel ein, zu dessen räumlicher Wirkung Struktur- und Akteursebene verbunden werden. Im empirischen Teil sind Strukturumbrüche in Deutschland zentrale Themen. Die quantitativen und qualitativen Verschiebungen zwischen Verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungssektor im Zuge der als Deindustrialisierung bezeichneten Prozesse werden ausführlich gewürdigt. Veränderungen der Produktstruktur sowie der Produktions- und Arbeitsorganisation in einzelnen Unternehmen illustrieren anschaulich die gegenwärtigen Wandlungstendenzen. Zwei Branchenstudien (Textil- und Elektroindustrie) beschließen diesen ersten zentralen Teil des Bandes.
Beim Dienstleistungssektor handelt es sich bekanntermaßen um einen sehr heterogenen Bereich. Vier seiner wichtigsten Teile werden im vierten Kapitel von ELMAR KULKE, HELMUT NUHN und PETER JURCZEK behandelt. Standortsysteme des Einzelhandels in den alten und den neuen Bundesländern, Standortfaktoren und Raumsysteme unternehmensorientierter Dienstleistungen, verkehrsräumliche Strukturen, Entwicklung der Verkehrsträger in verschiedenen Raumtypen sowie Angebotsstrukturen und regionalwirtschaftliche Effekte des Fremdenverkehrs sind die Hauptstichworte dieses in den einzelnen Teilen recht unterschiedlich konzipierten Abschnittes.
Im fünften Kapitel werden von LUDWIG SCHÄTZL und INGO LIEFNER zwei Sachverhalte miteinander verknüpft: Regionale Disparitäten und "Raumgestaltung". Sieht man einmal davon ab, daß der zweite dieser Begriffe äußerst unscharf ist, wird es dem Leser überlassen, den Zusammenhang zwischen beiden - beispielsweise über politische Ziele - herzustellen. Bei der Darstellung der Steuerung der Regionalentwicklung wird zu Recht zwischen direkten (Raumwirtschaftspolitik) und indirekten (z. B. Industriepolitik) Maßnahmebereichen unterschieden.
Im Länderfinanzausgleich wird eine Kombination beider Bereiche gesehen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Aufbauhilfe Ost eingegangen, ohne allerdings eine regionale Differenzierung vorzunehmen. Leider werden der Regionalpolitik der EU nur wenige Zeilen gewidmet, was sicher ihrer Bedeutung für Deutschland nicht gerecht wird, ganz abgesehen davon, daß auch von anderen Politikfeldern der EU indirekte wirtschaftsräumliche Wirkungen ausgehen.
Teil B enthält acht regionale Fallstudien, verfaßt von kompetenten Autoren. Sie folgen mehr oder weniger stringent der vom Herausgeber verfolgten Absicht, typische wirtschaftsräumliche Einheiten mit ihren strukturellen Dominanten darzustellen, z. B. den maritimen Komplex in Norddeutschland oder hochrangige überregionale Dienstleistungen im Rhein-Main-Gebiet. Es liegt auf der Hand, daß dabei durchweg Agglomerationsräume behandelt werden, wobei die jeweiligen Grenzen unterschiedlich gezogen werden, z. B. Raumordnungsregionen, Zuständigkeitsgebiete von Industrie- und Handelskammern. Positiv hervorzuheben ist, daß der Absicht, in diesen Fallstudien die Zusammenhänge zwischen veränderten Rahmenbedingungen und ökonomischem Strukturwandel darzulegen, von den Autoren ganz überwiegend entsprochen wird. Das gilt auch und besonders für die Fallstudien, die sich ganz oder teilweise mit Wirtschaftsräumen der neuen Bundesländer befassen.
Insgesamt kann das Hauptziel dieses Bandes als durchaus erreicht betrachtet werden. Daß die Einzelbeiträge unterschiedliche Schwerpunktsetzungen enthalten, ist in diesem Zusammenhang sicher nicht als nachteilig anzusehen. In zwei Punkten hätte man sich stärkere Akzente gewünscht: in der Bedeutung der außenwirtschaftlichen Verflechtung und in den Wirkungen des europäischen Binnenmarktes für die deutschen Wirtschaftsräume.
Autor: Klaus-Achim Boesler