Eike W. Schamp: Vernetzte Produktion: Industriegeographie aus institutioneller Perspektive. Darmstadt 2000. 248 S.

Um es vorwegzunehmen: Das neue Buch zur Industriegeographie von SCHAMP ist ein besonders innovativer Anstoß, die traditionelle Industriegeographie aufzubrechen und ihr eine neue Perspektive gegenüberzustellen, eine Industriegeographie aus institutioneller Perspektive. So verzichtet SCHAMP im Unterschied zu industrie- und wirtschaftsgeographischen Lehrbüchern vollständig darauf, die industrielle Standortlehre darzustellen, die vereinfacht ausgedrückt davon ausgeht, dass räumliche Attribute die Standortwahl von Industrieunternehmen lenken. SCHAMP konstatiert zurecht, "dass traditionelle ökonomische Ansätze, die überwiegend auf dem Faktor Transportkosten beruhen, nicht mehr ausreichen" (S. 22). Als Konsequenz schlägt er eine alternative Sichtweise vor, in der Unternehmen in institutionelle Zusammenhänge eingebunden sind und in vernetzten Strukturen mit Zulieferern, Abnehmern und anderen Akteursgruppen ihr Umfeld selbst gestalten. Folglich stehen, zumindest implizit, die institutionellen Zusammenhänge im Mittelpunkt der Analyse von SCHAMP. Es ist dies m. E. ein wichtiger Schritt, um industriegeographischen Arbeiten unter den veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts,
so wie es auch die Arbeiten von STORPER/WALKER (1989) und STORPER (1997) fordern, neue Analysewege zu eröffnen. Allerdings hält SCHAMP seinen Anspruch nicht immer konsequent durch. In Abschnitt 2.2.3 über die funktionale Arbeitsteilung in Mehr-Betriebs-Unternehmen wechselt er z. B. nach einer substanziellen Kritik an der Vernachlässigung der Unternehmensorganisation in Standardlehrbüchern auf die Ebene der Standortfaktorenkataloge, um die Standortwahl von Hauptverwaltungen und FuE-Abteilungen zu erläutern.
Ich stimme der Zielrichtung des Buches von SCHAMP zu, wenngleich ich in Einzelaspekten andere Auffassungen vertrete. Die von mir im folgenden aufgeführten Kritikpunkte sollen deshalb im Sinne einer konstruktiven Kritik vor allem dazu beitragen, das sich die Industrie- und allgemeiner die Wirtschaftsgeographie in Deutschland in Richtung einer sozialwissenschaftlich motivierten Disziplin entwickelt, deren Ziel es ist, die den wirtschaftlichen Standortstrukturen zugrunde liegenden ökonomischen und sozialen Prozesse zu verstehen, anstatt kontextlose ahistorische Standortfaktoranalysen durchzuführen (vgl. z. B. BATHELT/GLÜCKLER 2000).
In Kapitel 1 behandelt SCHAMP auf sehr hohem Niveau einführend dynamisch-evolutionäre Ansätze zum Verständnis ko-evolutionärer Entwicklungsverläufe von Wirtschaft und Gesellschaft: die neoschumpeterianische Version technisch-ökonomischer Zyklen (Abschnitt 1.1), den primär an der Arbeit von BOYER (1990) orientierten regulationstheoretischen Ansatz (Abschnitt 1.2) und ausgehend von der Arbeit von NELSON/WINTER (1982) evolutionsökonomische Konzeptionen (Abschnitt 1.4). Etwas unklar bleibt, warum SCHAMP in demselben Kapitel auch die neue Institutionenökonomie (Abschnitt 1.3) behandelt, die weniger zum prozessualen Verständnis beiträgt, sondern in erster Linie, speziell in der Ausprägung des von SCHAMP favorisierten transaktionskostenanalytischen Ansatzes, darauf abzielt, die Organisationsstruktur von Wirtschaftsprozessen und die Beherrschungs- und Überwachungssysteme von Transaktionen zu erklären (vgl. WILLIAMSON 1985). Dennoch hat gerade dieser Ansatz eine zentrale Bedeutung für das Buch, bildet er doch die Grundlage zur  Strukturierung der nachfolgenden Kapitel. Allerdings geht SCHAMP in diesem Abschnitt nur sehr knapp auf die grundlegende sozialwissenschaftliche Embeddedness-Kritik (vgl. GRANOVETTER 1985) und auf die Beschränkungen des Transaktionskostenansatzes ein. Ich halte diese Einwände für so gewichtig, dass ich vermutlich eine andere als eine am Transaktionskostenansatz orientierte Struktur für das Buch gewählt hätte. Besonders hervorzuheben ist Abschnitt 1.4 über evolutionsökonomische Ansätze, in dem SCHAMP deutlich macht, dass die Vorstellung von ökonomischer Entwicklung als einem vollständig steuerbaren und vorhersehbaren Prozess aufgegeben werden muss (vgl. DOSI 1988). Was die gelungene Diskussion der theoretischen Ansätze in Kapitel 1 noch verbessert hätte, wäre eine spezifisch räumliche Perspektive auf die ausgewählten Erklärungsansätze gewesen. Insgesamt bleiben räumliche Bezüge hier eher vage und sind nur randlich vorhanden.
Kapitel 2 weicht in seiner Gliederung substanziell von traditionellen Schemata ab. Einer transaktionskostenanalytischen Perspektive folgend unterscheidet SCHAMP verschiedene institutionelle Formen der industriellen Produktion. Ausgehend von einer Diskussion des industriellen Produktionssystems (Abschnitt 2.1) behandelt SCHAMP in diesem Kapitel nacheinander unterschiedliche Organisationsformen von Transaktionen: in Abschnitt 2.2 zunächst unternehmensinterne Strukturen (Hierarchie), danach Kooperationen und Netzwerke einschließlich ihrer territorialen Ausprägungsformen Industriedistrikt und innovatives Milieu (Abschnitt 2.3) und schließlich den Markt als Institution (Abschnitt 2.4). Abgerundet wird das Kapitel durch eine Diskussion über die Beziehungen zwischen Unternehmen und Staat auf verschiedenen Ebenen (Abschnitt 2,5). Aufschlussreich ist die differenzierte Darstellung der verschiedenen Konzepte industrieller Produktionssysteme in Abschnitt 2.1. Im Unterschied zu vielen traditionellen Ansätzen bildet das Produktionssystem bei SCHAMP den zentralen Ansatzpunkt industriegeographischer Analyse. Er verdeutlicht zugleich, dass Konzepte wie das der filière, der Wertschöpfungskette und des Produktionssystems in ihrer empirischen Umsetzung oftmals nicht mehr klar voneinander abgrenzbar sind und selbst von traditionellen, auf Materialverflechtugnen fokussierten Untersuchungen nicht unbedingt stark abweichen. Besonders gelungen ist Abschnitt 2.3 über Kooperationen und Netzwerke von Unternehmen. In diesem Abschnitt zeigt sich, wie intensiv und grundlegend sich SCHAMP mit Arbeiten über lokalisierte Netzwerke in Industriedistrikten und im Umfeld fokaler Unternehmen beschäftigt hat. Die Darstellung reicht hier über die in der Standardliteratur verbreitete Sichtweise deutlich hinaus und stellt zugleich kritische Fragen hinsichtlich der empirischen Relevanz. Positiv gegenüber anderen Studien hervorzuheben ist zudem, dass SCHAMP in diesem und im anschließenden Kapitel neben den Prozessen des Wachstums und der Neugründung nach Misserfolg, Schrumpfung und Schließung thematisiert und in das Untersuchungsschema integriert.
In Kapitel 3 folgt SCHAMP auf den ersten Blick einem klassisch geographischen, nämlich regionalen Gliederungsprinzip. Im Unterschied zu den Darstellungen anderer industriegeographischer Bücher geht es ihm hierbei allerdings nicht darum, seine vorher getätigten Aussagen an regionalen  Beispielen zu demonstrieren und standörtliche Unterschiede aufzuzeigen, vielmehr unterscheidet er strukturelle Regionstypen, die durch unterschiedliche institutionelle Bedingungen gekennzeichnet sind: Deindustrialisierung in alten Industrieregionen (Abschnitt 3.2), Entstehung neuer Technologieräume (Abschnitt 3.3), Industrialisierung im "Süden" (Abschnitt 3.4) und Transformation industrieller Strukturen, vor allem in osteuropäischen Regionen (Abschnitt 3.5). Die institutionelle Perspektive bei der Behandlung der verschiedenen Regionstypen hätte allerdings durch ein einheitliches Analysegerüst noch stärker verdeutlicht werden können. So sind die Auswirkungen institutioneller Unterschiede nicht direkt vergleichbar und die gemeinsame institutionelle Perspektive tritt etwas in den Hintergrund. Das gleiche gilt auch für das Schlusskapitel. Hier wäre es m. E. für die Leser hilfreich gewesen, die Argumentationsstränge des Buches zusammenzuführen und die Bedeutung der institutionellen Perspektive für Verständnis- und Analysezwecke explizit herauszuarbeiten. Statt dessen wird in Kapitel 4 vor allem noch einmal die Kritik an der Diskussion über Industriedistrikte aufgegriffen und vertieft.
Der Entwurf einer institutionellen Perspektive der Industriegeographie durch SCHAMP ist ein innovativer Anstoß, traditionelle wirtschaftsgeographische Analyseschemata zu hinterfragen. SCHAMP gibt in seinem Buch einen umfassenden Überblick über aktuelle Diskurse und Konzeptionen der Industriegeographie. Was dabei ein wenig unklar bleibt, ist allerdings, welche Ziele er mit dem Buch verfolgt und welche Zielgruppen er als potentielle Leser ansprechen will. Obwohl SCHAMP nicht den Anspruch eines Lehrbuchs formuliert, hat die Darstellung wichtiger theoretischer und empirischer Debatten durchaus einführenden Lehrbuchcharakter. Dem entspricht allerdings nicht die Darstellung des Stoffes. SCHAMP schreibt seine Gedanken in einem ansprechenden, aber auch komplexen Stil nieder, der sich für Einsteiger nur schwer erschließen dürfte. Erschwerend wirkt sich in diesem Zusammenhang die Praxis aus, auf komplexe Sachverhalte hinzuweisen, diese aber nicht explizit auszuführen. So kann ich mir nur schwer vorstellen, dass die komplexen Ausführungen über Regulationstheorien in Abschnitt 1.2 ausreichen, um einer bzw. einem Studierenden im Grundstudium einen Überblick über die zentralen Aussagen der Regulationstheorien zu vermitteln. Damit das Buch eine breite Leserschaft erhält, könnte es parallel zu einführenden Lehrveranstaltungen in diese Thematik (z. B. im Rahmen einer ergänzenden Übung) verwendet werden. Zusammenfassend signalisiert das (Lehr-)Buch von SCHAMP einen wichtigen, längst überfälligen Anstoß für die Industriegeographie, der in weiteren Arbeiten aber noch einer vertiefenden Erweiterung und Ausformulierung bedarf.
Literatur
BATHELT, H. u. GLÜCKLER, J. (2000): Netzwerke, Lernen und evolutionäre Regionalentwicklung. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 44. Im Druck.
BOYER, R. (1990): The Regulation School: A Critical Introduction. New York.
DOSI, G. (1988): The Nature of the Innovative Process. In: DOSI, G.; FREEMAN, C.; NELSON, R. R.; SILVERBERG, G. a. SOETE, L. L. G. (Eds.): Technical Change and Economic Theory. London und New York, 221-238.
GRANOVETTER, M. (1985): Economic Action and Economic Structure: The Problem of Embeddedness. In: American Journal of Sociology 91, 481-510.
NELSON, R. R. a. WINTER, S. G. (1982): An Evolutionary Theory of Economic Change. Cambridge (MA).
STORPER, M. (1997): The Regional World. Territorial Development in a Global Economy. New York und London.
STORPER, M. a. WALKER, R. (1989): The Capitalist Imperative. Territory, Technology, and Industrial Growth. New York und Oxford.
WILLIAMSON, O. E. (1985): The Economic Institutions of Capitalism. Firms, Markets, Relational Contracting. New York et al.    
Autor: Harald Bathelt

Quelle: Erdkunde, 55. Jahrgang, 2001, Heft 2, S. 199-200