Martin Müller: Regionalentwicklung Irlands: Historische Prozesse, Wirtschaftskultur und EU-Förderpolitik. Stuttgart 1999 (Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg, Band 89). 324 S.
Diese Untersuchung leidet an dem strukturellen Problem, dass der Autor seine in der Grafschaft Wicklow gemachten Erfahrungen mit dem Leader Program (von der EU finanziell geförderte lokale Projekte) als Ausgangsbasis benutzt, um Aussagen über die Entwicklung der irischen Wirtschaft auf nationaler Ebene zu machen. Obwohl er den Erfolg von internationalen Investitionen in Irland wiederholt anspricht, hält er den irischen Anteil an diesen Entwicklungen für minimal. Statt dessen versucht er außerökonomische Variablen aufzuzeigen, die sich auf die wirtschaftliche Entwicklung Irlands in der Vergangenheit und in der Gegenwart hemmend ausgewirkt haben sollen. Dabei greift er weit in die irische Geschichte zurück und kommt zu Verallgemeinerungen, die historisch nicht vertretbar sind, wie zum Beispiel die Behauptung, dass die Schriftsprache verspätet in Irland eingeführt wurde. Das Gegenteil ist der Fall.Mit erstaunlicher Sicherheit spricht er von der Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Kultur und er stellt in der Einleitung der Studie (S. 5) fest, dass die kulturelle Basis in Irland nicht ausreiche, um eine eigenständige dauerhafte Regionalentwicklung zu erreichen, da die Iren durch wenig ausgeprägten Wirtschaftsgeist und schwache Innovationskultur gehindert seien. Als diese Studie 1999 erschien, war der 'Celtic Tiger', das markante Wirtschaftswachstum Irlands,
in vollem Gange. Im Zeitraum zwischen 1990-1998 war Irland das Land unter den OECD Staaten mit dem größten wirtschaftlichen Wachstum mit einem durchschnittlichen jährlichen Bruttobinneneinkommen (GDP) von 7,3% pro Jahr. Diese Entwicklung geht noch weiter und die Arbeitslosigkeit in Irland liegt zur Zeit unter 5%. Das Bruttobinneneinkommen per Kopf ist jetzt in Irland das zweithöchste in der EU. Seit den 1990er Jahren hat sich Irland sozusagen neu erfunden ('reinvented itself'). Die Ideologie der Staatsgründer (1922 Unabhängigkeit), die auf Kirche, Familie und Hof ausgerichtet war, musste der Liberalisierung der Gesellschaft durch den Einfluss des Fernsehens und einer zunehmend erfolgreichen Wirtschaftspolitik weichen. Für das enorme wirtschaftliche Wachstum war sowohl die günstige junge Bevölkerungsstruktur mit einer geringen Abhängigkeitsrate maßgebend, wie die Tatsache, dass Irland ein gut fundiertes Erziehungswesen hat, bei dem ein sehr großer Teil der Bevölkerung eine dreijährige Universitätsausbildung erhält, sowie die Tatsache, dass Irland das einzig Englisch sprechende Land im Gebiet des Euro ist - und schließlich seine Lage zwischen Amerika und dem Europäischen Festland, was Standortvorteile bietet.
Da die Ereignisse die Prognosen dieser Untersuchung total überholt haben, wird sie kaum zum Verständnis der
Regionalentwicklung im heutigen Irland herangezogen werden können. Der 'cultural turn' in der Geographie kann wesentlich zum vertieften Verständnis von gesellschaftlichen Strukturen beitragen, aber dann darf die Sicht nicht durch Vorurteile verstellt werden.
Autor: Anngret Simms