Gerd Willamowski, Dieter Nellen, Manfred Bourrée (Hg.): Ruhrstadt. Die andere Metropole. Herausgegeben für den Kommunalverband Ruhrgebiet. Essen 2000. 655 S.

Thomas Rommelspacher schreibt in seinem Beitrag "Die zweite Chance: Der steinige Weg zu urbanen Lebensformen" in dem hier vorliegenden Band: "Eines hat sich ... seit der Jahrhundertwende nicht verändert: Wie einst die königlich-preußische Regierung in Berlin so verweigern heute die Sozialdemokraten in der Düsseldorfer Landesregierung dem Ruhrgebiet eine einheitliche Verwaltung und eine eigene politische Arena. Sie beharren darauf, dass die 1818 erfolgte Aufteilung des Raumes zwischen Ruhr und Emscher unter drei Regierungspräsidenten die sinnvollste Weise ist, den größten deutschen Ballungsraum zu verwalten." (S. 83) Die Pläne der sozialdemokratisch geführten Landesregierung gingen in der Tat noch weiter. Mit dem Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) sollte die einzige administrative Klammer des Großstadtgebietes "Ruhrrevier" aufgelöst werden, seine Aufgaben auf die Kommunen übertragen und eine neue Organisation, die "AgenturRuhr", die "gestalten, nicht verwalten" sollte (so die damalige nordrhein-westfälische Ministerin für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport Ilse Brusis), geschaffen werden. Die für die SPD in NRW ungewohnt schlechten Ergebnisse der letzten Kommunalwahl haben diese Pläne vereitelt. Inzwischen haben der KVR, Konkurrenzparteien der Sozialdemokraten, Vereine und Initiativen eine Debatte initiiert, die als "Ruhrstadt"-Diskussion lebhaftes Echo in den regionalen Medien findet. In einer vom Verein "Pro Ruhrgebiet" im November 2000 durchgeführten Internetumfrage stimmten 56,4 % der fast 40.000 Teilnehmer für die "Ruhrstadt" als anzustrebende Organisationsform des Ruhrgebiets. Vor diesem Hintergrund der sich wieder formierenden Diskussion um eine angemessene administrative Einheit ist der Titel des Bandes zu verstehen.
Mit dem Buch will der Herausgeber Kommunalverband Ruhrgebiet neue Sichtweisen auf das Ruhrgebiet eröffnen und alte Klischees in Frage stellen. Es ist der Schlußpunkt unter das Geschichtsprojekt Historama Ruhr 2000, in dem nach identitätsstiftenden Wurzeln des Ruhrgebiets gefahndet wurde. Das mit 655 Seiten und über 600 Photos und Illustrationen ausgestattete, überformatige und fast vier Kilogramm schwere Werk richtet sich an eine breite, aber zunächst nicht genau bestimmbare Leserschaft, die eingeladen wird, die Region mit ihren äußerst vielfältigen ökonomischen, siedlungsgeschichtlichen, kulturellen, künstlerischen, landschaftlichen und auch intellektuellen Traditionen kennenzulernen oder sich ein bereits bestehendes Bild von Vielfältigkeit, Unverwechselbarkeit etc. bestätigen zu lassen.
Über 50 Autoren unternehmen den Versuch, im Wechsel von Essay, Reportage, Bericht und Analyse allgemeinverständlich die großen Entwicklungslinien der letzten 100 Jahre in den unterschiedlichsten Themenfeldern aufzuzeigen.
Die Themenpalette ist so breit wie das Buch schwer und dick. Der bekannte Satiriker und Titanic-Redakteur Thomas Gsella erfährt das Revier von West nach Ost mit der Straßenbahn und teilt die Erfahrungen seiner kurzen teilnehmenden Beobachtung den Lesern mit. Der Essener Innovationsforscher Erich Staudt beschäftigt sich mit dem berühmten Ruhrgebietsfilz; der Verleger Ludger Claßen verweist in seinem Beitrag "Die stille Revolution - Studentenstadt Ruhrgebiet" auf die eher leisen Erfolge der Hochschulen im Revier: "Der ... Anteil von etwa 20 Prozent (der Studenten, J. B.) aus Arbeiterfamilien könne aber nach wie vor als Besonderheit der Ruhrgebietshochschulen gelten und unterstreiche die Bedeutung der Hochschullandschaft für die Bildungschancen insbesondere von Kindern aus Arbeiterfamilien" (S. 282); während der WDR-Korrespondent Hagen Beinhauer mit der Forschungslandschaft an Ruhr und Emscher hart ins Gericht geht und fordert: "Nicht Kleckern. Klotzen!" (so der Titel seines Beitrages, S. 294 ff.).
Harry Lehmann vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie zeichnet den Wandel von der Kohle zur Sonne als Energielieferanten nach und Ulrich Schreiber zieht eine kritische Bilanz der Theatergeschichte; auch darf die "geheimen Magie" der Currywurst und des Bochumer Bermuda-Dreiecks nicht fehlen (S. 610 ff.). In diesem Buch wird alles behandelt, was nur in irgendeiner Form mit dem Ruhrgebiet zusammenhängt. Peinlich genau wird auch darauf geachtet, daß alle größeren Städte der Region mit einer angemessenen Zahl von Themen und Bildern vertreten sind. Das scheint mir nun doch ein Hinweis darauf zu sein, an welche Zielgruppe sich dieses Buch wendet: Es ist in erster Linie für die Leserschaft in der Region geschrieben. Mit der gleichen Intention, die sich auch im Kultur- und Geschichtsspektakel Historama Ruhr 2000 finden läßt, wird auch in diesem Band ein Stück Identitätsarbeit für die Region, für die sich formierende "Ruhrstadt" geleistet.
Im ersten Aufsatz des Bandes, den man durchaus als Einleitung oder als Progammatik des Buches lesen kann, deutet Klaus Tenfelde, Leiter des Instituts für Soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, an, worum es geht: "Dieses Selbstbewusstsein (einer im Strukturwandel neu entstandenen bürgerlichen Mittelschicht, die "Neue Mitte", J. B.) sucht nach der historischen Verankerung, nach den geschichtlich begründeten Besonderheiten der Region, um sich ihr Bild von ihrer Heimat zu machen, sich zu orientieren, um zu wissen, wo man herkommt und hin will." (S. 17/18) "Integrationskern" dieser Neuen Mitte ist nach Tenfelde eine klassenübergreifende Erinnerungsgemeinschaft, in deren Mittelpunkt die Schwerindustrie steht.
Das vorliegende Buch bietet vor allem für jene eine reichhaltige Fundgrube an Primärliteratur, die sich mit dem Thema Entstehung einer regionalen Identität beschäftigen wollen. Für alle diejenigen, die an dieser Thematik weniger interessiert sind, ist es ein opulent ausgestatteter Band anspruchsvoller Reiseliteratur, der nicht nur einige kurzweilige Lesestunden verspricht, sondern der auch dazu auffordert, sich durch eigene Anschauung vor Ort ein eigenes Bild vom Revier zu machen.
Autor: Jörg Becker

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 1, S. 58-60