Thorsten Hülsmann: Geographien des Cyberspace. Oldenburg 2000 (Wahrnehmungsgeographische Studien, Band 19). 118 S.
Die bisher als "Wahrnehmungsgeographische Studien zur Regionalentwicklung" bekannte Schriftenreihe der Universität Oldenburg wird ab diesem Band (19) ohne ihre bisherige Fokussierung auf Regionalentwicklung unter dem Titel "Wahrnehmungsgeographische Studien" weitergeführt. Das neue Erscheinungsbild des Heftes mag für die "größere Offenheit gegenüber unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen" stehen - ein überzeugenderer Beleg dafür ist das Thema des ersten ›neuen‹ Bandes: ›Geographien des Cyberspace‹.
"Geographien des Cyberspace" haben in der deutschsprachigen Geographie, anders als in der englischsprachigen Geographie, bisher kaum größere Beachtung gefunden; zumindest hat sich eine solche nicht in einer nennenswerten Zahl von Publikationen niedergeschlagen. In der Wochenzeitung Die Zeit (Nr. 6, 2000) mahnt GERO VON RANDOW, dass andere Disziplinen, die weniger kritisch mit Raumbegriffen umgehen, dieses Feld besetzen könnten, wenn die Geographie nicht bald reagiere. In dieser Hinsicht schließt THORSTEN HÜLSMANNs Arbeit eine Lücke, die außerhalb der universitären Geographie bereits bemängelt wurde.
Das Fehlen einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesem Thema in der fachwissenschaftlichen Geographie mag damit zu tun haben, dass man es beim Internet trotz der augenfälligen Häufung von räumlichen Metaphern mit einem "anscheinend raum- und ortlosen Medium" zu tun hat. THORSTEN HÜLSMANN zeigt jedoch, dass die "virtuelle Welt" des Internet als ein Raum verstanden werden kann, in dem "Orte als Sinnprinzip" eine entscheidende Rolle für die Konstitution sozialer Beziehungen spielen. Dies gelingt ihm dadurch, dass er eine Perspektive vorschlägt, deren Schwerpunkt nicht auf der erd-räumlichen Verteilung von KommunikationsteilnehmerInnen und kommunikationstechnischen Einrichtungen liegt, sondern auf der Bedeutung von Raum als "Code oder Medium" für die Herstellung sozialer Beziehungen. Entgegen der im Zusammenhang mit der Rede von Globalisierung vielfach beschworenen Auflösung der Ortsbezogenheit sozialer Prozesse und dem behaupteten Bedeutungsverlust von Raum befasst sich diese Arbeit also mit Räumen "im Sinne stetig neu entstehender virtueller Orte", welche gerade durch (die Anwendung von) Kommunikationstechnologien gebildet werden. Diese Sichtweise, so der Autor, ermöglicht schließlich auch "ein verfeinertes Verständnis der sozialen und menschlichen Dimensionen" von Globalisierung.
Nach einem einleitenden ersten Kapitel, in dem die Fragestellung mit Bezug auf die gegenwärtige, sozialwissenschaftliche Debatte über Globalisierung erläutert wird, folgt im zweiten Kapitel eine kurze Aufklärung über das systemtheoretische Verständnis von Kommunikation. Das dritte Kapitel besteht zum größten Teil aus einer ausführlichen Darstellung der bekannten Nutzungsformen des Internet (www, e-Mail, Newsgroups, Diskussionslisten, Chat-Foren). Der Blick auf die eher inhaltlich-qualitative Dimension von computervermittelter Kommunikation im zweiten Teil dieses Kapitels zeigt, dass der virtuelle computererzeugte Raum hinsichtlich der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen "gleichberechtigt neben dem physischen Raum steht".
Die Erörterung der Frage nach der Konstitution dieses "Raumes computervermittelter Kommunikation" führt im vierten Kapitel zu einer Diskussion verschiedener Raumkonzeptionen. Von Interesse sind dabei Konzepte, in denen die Kategorie Raum im Hinblick auf ihre (komplexitätsreduzierende) Funktion in sozialer Kommunikation im Vordergrund steht - eine Vorstellung, die Mitte der 80er Jahre von HELMUT KLÜTER zu einem umfassenden theoretischen Ansatz ausgearbeitet wurde. Obwohl HÜLSMANN verschiedentlich auf systemtheoretische Überlegungen zu sozialer Kommunikation Bezug nimmt, ist ihm KLÜTERs Arbeit über "Raum als Element sozialer Kommunikation" keine Nennung wert. In der Diskussion verschiedener Raumkonzeptionen werden in der Folge Arbeiten zur Repräsentation und Imagination von Räumen, HENRI LEFEBVREs Theorie der Produktion des Raumes, die Idee von einem 'space of flows' (MANUEL CASTELLs) und, unter Bezugnahme auf Arbeiten von DOREEN MASSEY, die Bedeutung von Orten "als eine Quelle von Identität" aufgegriffen. Leider bleiben ihre Darstellung und ihre Bedeutung im Argumentationsgang zuweilen schwer nachvollziehbar. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Autor zwar eine Vielzahl von theoretischen Überlegungen und Begriffen unterschiedlichster Provinienz vorführt, die Ausführung der einzelnen Argumentationsschritte hingegen sehr knapp hält.
Für die konzeptionelle Erfassung der Beziehung von Raum und Kommunikation findet HÜLSMANN schließlich weitere Anknüpfungspunkte beim französischen Ethnologen MARC AUGÉ, insbesondere bei dessen Begriff des "anthropologischen Ortes". AUGÉ bezeichnet damit symbolisch aufgeladene Orte, die mit der sozialen Praxis von Gruppen oder Personen eng verbunden sind und eine starke sinnstiftende Funktion für soziale Beziehungen haben. Demgegenüber zeichnen sich die sogenannten "Nicht-Orte" durch das Fehlen einer historisch verfestigten Bedeutungsaufladung aus. "Nicht-Orte" besitzen (noch) keine Identität und bieten "Raum" für neue Praktiken und Handlungsstrategien. Diese Überlegungen bilden den Hintergrund für eine empirische Untersuchung von konkreten Nutzungspraktiken im Internet.
Eine längere teilnehmende Beobachtung in verschiedenen Internet Relay Chats wurde dabei mit ausführlichen offenen Interviews ergänzt. Diese im Sinne qualitativer Sozialforschung konzipierte Herangehensweise entspricht der leitenden Frage nach der Bedeutung von "Orten als Sinnprinzip". Die ausführliche Darstellung der Ergebnisse wird dem Informationsreichtum des gesammelten Materials gerecht und gibt ein aufschlussreiches Bild der vielfältigen Formen sozialer Beziehungen, die über Kommunikation im Internet hergestellt und aufrecht erhalten werden.
Im Schlusswort hält THORSTEN HÜLSMANN fest, dass die Arbeit "nur ein (...) Versuch" sei, "ein wenig Ordnung in den endlosen Raum der virtuellen Welt zu bringen". Auch wenn anzunehmen ist, dass die Ordnung oder die Unordnung in der virtuellen Welt durch diese Arbeit kaum größer geworden sein dürfte, zeigt dieser Versuch nicht nur, welche Bedeutung räumliche Kategorien für die Kommunikation im Internet erlangen. Die Arbeit macht darüber hinaus deutlich, dass die Thematisierung kommunikativer Prozesse eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Konzeption von Raum erfordert, zu der auch aus der deutschsprachigen Geographie weitere interessante Beiträge erwartet werden dürften.
Autor: Roland Lippuner