Michael Herbert: Kommunale Fehlentscheidungen erkennen und vermeiden. Irrationale Entscheidungsprozesse aus systemorientiert geographischer Sicht. Erlangen-Nürnberg 1998 (Nürnberger Wirtschafts- und Sozialgeographische Arbeiten, Bd. 52). 251 S.

Der Titel des Buches von Michael Herbert formuliert ein ausgesprochen zupackendes Programm, das, wenn nicht auf ein Thema der Forschung, so doch auf weithin geteiltes alltägliches Erleben reagiert: Die Politik, hier die Kommunalpolitik, könnte auch anders gemacht werden, und vor allem könnte sie besser gemacht werden. Den Beitrag, den die geographische Forschung dazu leisten sollte, erkennt der Autor darin, daß sie es unternimmt, die Politik über störende Einflüsse auf politisches Entscheidungsverhalten zu informieren und wissenschaftlich geprüfte Vorschläge zu unterbreiten, wie diese Störfaktoren so auszuschalten sind, daß die Politik den an sie gerichteten Ansprüchen an rationales Entscheiden in größerem Umfang als bisher gerecht werden kann (S. 2 f.).

Das ist eine durchaus berechtigte Problemstellung, die allerdings so neu auch wieder nicht ist. Um so mehr darf man sich wundern, weshalb eigentlich bislang derart wenig bei der wissenschaftlichen Beratung der Politik herumgekommen ist. Folgt man den Intentionen des Autors, ist die Ursache darin zu sehen, daß die Möglichkeiten der Politikberatung entschieden unterausgenutzt sind, solange man nicht alle denkbaren Informationsverarbeitungsmöglichkeiten aufgreift, um ein umfassendes und vollständiges Bild der sozialen Verflechtungen in einer komplexen Gesellschaft zu erhalten. Aus der Notwendigkeit einer Komplettbetrachtung der Kommunalpolitik zieht Herbert zwei Schlußfolgerungen: Zum einen erkennt er hier den Anknüpfungspunkt für die politische Geographie, die rein politikwissenschaftliche Forschungen ergänzt, indem sie sich mit der Raumwirksamkeit politischer Entscheidungen befaßt (S. 4). Und er vertritt die Auffassung, daß aus der Komplexität der Aufgabenstellung auch Anforderungen an eine wissenschaftlich begründete Entscheidung über die Theorie abzuleiten sind, die zur Bearbeitung einer solchen auf das Ganze zielenden Problemstellung in Frage kommt (S. 26).
Herbert optiert für Systemtheorie. Das ist insofern eine interessante Festlegung, als Systemtheorien im letzten Jahrhundert in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen - Informatik, Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie usw. - aufgetaucht sind. Auf der Basis ihres theoretischen Instrumentariums wurden abweichende und überraschende Beobachtungsmöglichkeiten in den jeweiligen Fächern und inzwischen auch viele Vergleichsmöglichkeiten zwischen so unterschiedlichen Systemen wie Automaten, lebenden Systemen wie Nervenzellen, Immunsystemen, Gehirnen und sinnverarbeitenden Systemen wie psychischen und sozialen Systemen erzeugt.
Da liegt es nahe zu vermuten, daß auch die Geographie von der Systemtheorie profitieren könnte. Nur wie? Der Autor entschließt sich, seinem Lehrer Wiegand Ritter zu folgen. Er beschreibt die Kommune als territoriales Beziehungsgeflecht aus Bürgern, Wirtschaftsunternehmen, Kirchen, Presse und politischen Organisationen (S. 46 ff.), das seinerseits in eine umfassendere "Systemlandschaft" aus anderen Kommunen, Regionalsystemen und schließlich nationalen Gesellschaften nach der Art eines Super- oder Allsystems eingebettet ist (S. 34). Zwischen den unterschiedlichen Teilen der Systemlandschaft postuliert Herbert vielfältigste Relationen und Rückkopplungsschleifen, deren Rekonstruktion im Bezug auf die Kommunalpolitik er als seine Hauptaufgabe ansieht. Dabei weist er dem in manchen Hinsichten übergeordneten, in anderen Hinsichten untergeordneten Systemelement Kommune eine herausgehobene Position dahingehend zu, daß sie dazu bestimmt sei, innerhalb ihrer Grenzen als "Gesamtregulator" mit politischen Mitteln für die Koordination der Vielfalt der gesellschaftlichen Teilelemente zu sorgen (S. 40) und - nach Möglichkeit - die Angelegenheiten der auf ihrem Territorium lebenden Bürger gegen permanente Störungen durch die Dynamiken des Gesamtsystems auf Rationalität hin zu optimieren.
Es wäre leicht nachvollziehbar, wenn solche Überlegungen von Politikern mit Zustimmung bedacht würden, und deshalb überrascht es nicht, daß sie tatsächlich besonders den Entscheidern in den Rathäusern anempfohlen werden (S. IX). Auch unter Politikwissenschaftlern mögen sich heute noch verwandte Vorstellungen halten, nach denen den Entscheidungen der Politik irgendwie ein Primat in den gesellschaftlichen Angelegenheiten zuzurechnen ist. Als Soziologe möchte man jedoch und als Systemtheoretiker muß man auf einer Einschränkung insistieren: nur in politischen, also auf kollektive Bindung von Verhalten zielenden Fragen! In wissenschaftlichen Fragen - Publikation von Wahrheitsaussagen - entscheidet dagegen primär das Wissenschaftssystem, in Glaubensdingen - Seelenheil trotz Abtreibung - das Religionssystem, in Rechtssachen - Erfüllung/ Nichterfüllung von Vertragspflichten - das Rechtssystem und so fort. Das gilt dann, z. B. wenn wissenschaftliche oder wirtschaftliche Fragen angesprochen sind, natürlich auch wieder für die Politik selbst. Und die Politiker müssen, etwa wenn sie herausbekommen wollen, mit welcher Summe Geld der kommunale Haushalt durch die Neuausschreibung der Stelle des Theaterintendanten oder das neue Freizeitzentrum belastet werden wird, schon die Wirtschaft entscheiden lassen, welcher Preis dafür am Markt verlangt werden kann oder muß.
Der akribischen Konzentration des Autors auf die Interdependenzen der als relevant erachteten Systemelemente entgeht also etwas, worauf er hätte stoßen müssen, wenn er seine eigenen Theorieentscheidungen kontrollierter an der Systemtheorie orientiert hätte: die Independenz der Systeme. Wenn man überhaupt eine einzelne Einsicht der Systemtheorie sinnvoll herausheben kann, ist es die, daß Systeme nicht nach dem Modell des Ganzen und seiner Teile gedacht werden können. Der Systembegriff der Systemtheorie meint vielmehr eine für jede Form von Systembildung konstitutive Differenz: die Differenz von System und Umwelt, die dadurch in die Welt kommt, daß ein System mit internen Operationen eine Grenze zwischen sich und seiner Umwelt einrichtet und in Anschlußoperationen stabilisiert. Das System selbst ist nichts anderes als diese Differenz, und die Grenze des Systems schafft eine Verbindung von System und Umwelt allein auf der Basis ihrer Trennung. Ausdifferenzierte Systeme können etwas nur tun, weil sie nur dieses tun können. Das politische System etwa kann bestimmte Sachverhalte nur deshalb kollektiv verbindlich entscheiden, weil es sie einzig und allein politisieren kann und nicht gleichzeitig auch noch unter Wahrheitsgesichtspunkten behandeln und alle Einwohner dabei liebhaben muß. An diesem Beispiel ist auch abzulesen, daß sich die Politik mit dieser Reduktion von unbearbeitbarer Umweltkomplexität auf die alleinige Operation kollektiv bindenden Entscheidens nicht nur aus ihrer Umwelt herauslöst. Sie handelt sich auch neue Abhängigkeiten gegenüber der Umwelt ein, weil anderes nun anderswo erledigt werden muß, Liebe beispielsweise in Intimbeziehungen oder Ausbildung im Erziehungssystem oder - und man ahnt, daß Umweltabhängigkeit in der Politik manchmal geradezu pathologische, das System überbeanspruchende Züge annehmen kann - öffentliche Meinungsbildung im System der Massenmedien.
Die Systemtheorie macht demnach darauf aufmerksam, daß ausdifferenzierte Systeme gesteigerte Unabhängigkeit immer mit gesteigerter Abhängigkeit von ihrer Umwelt kombinieren. In dieser Umwelt eines Systems können wieder viele andere Systeme mit anderen eigenen Operationsmodi und anderen eigenen Umwelten vorkommen. Aber es ist nicht möglich, diese vielfältigen System/Umwelt-Differenzen in ein alles umfassendes System einzuordnen. Was Herbert anbietet, ist dagegen eine fundamental andere Sicht auf Systeme, die nach Art der in den 70er Jahren betriebenen Ökosystem-Analyse oder der Modellierung von Weltsystemen vorgeht und alles Vorkommende in einen Allzusammenhang einzubeziehen versucht. Das ist eine Vorstellung, in der es nicht die Systeme selbst sind, die ihre Grenze festlegen, sondern der wissenschaftliche Beobachter, der sich eine Systemlandschaft zuschneidet. Man sollte nicht "zu eng" (S. 34) schneiden, warnt der Autor, ohne uns zu informieren, wie man - professionelle Anstrengung vorausgesetzt - ein Abgleiten ins Bodenlose vermeidet, das für ein relationierendes Denken dieses Typs charakteristisch ist. Mit Systemtheorie hat das alles wenig zu tun. Aus ihrer Perspektive wäre ein ganz anderer Disclaimer angebracht, nämlich der, daß auch dieses Letztsystem wieder nur in einer Umwelt vorstellbar wäre, die den Möglichkeiten dieses Systems Grenzen setzt und durch Störungen der Systemprozesse erfahrbar wird.   
Sind die Prämissen einmal so auf die Betrachtung eines Ganzen gestellt, wie es der Autor tut, hat das auch Folgen für den Begriff der rationalen politischen Entscheidung, der unter diesen Bedingungen noch formulierbar ist. Rationale Entscheidungen sind dann gewissermaßen eine Perfektionsform des Entscheidens, die ein möglichst vollständiges Verständnis aller Interdependenzen der Entscheidungslage voraussetzt, und kommunalpolitisch rationale Entscheidungen folgen dieser Vorgabe, indem sie die raumwirksamen Verflechtungen der Kommune so komplett wie möglich berücksichtigen (S. 21 f.). Kommunalpolitikern wäre Rationalität dann zuzuerkennen, wenn sie zielorientiert auf die Bedürfnisse der Bevölkerung hin gestalterisch tätig würden und wenn sie dieses nach bestem Wissen und verantwortungsbewußt täten (S. 22). Sie würden reaktives Entscheiden vermeiden (S. 98), lange Zeithorizonte nicht aus dem Auge verlieren (S. 102), immer gut informiert sein (S. 103), sich rechtzeitig und souverän gegenüber den Störungen organisierter Interessen an veränderte Lagen anpassen (S. 111), Entscheidungszwängen ausweichen (S. 114), ihre Ziele konkretisieren (S. 121) und sich regelmäßig weiterbilden (S. 134).
Mein Einwand ist nicht, daß dieser in der Aufzählung noch gekürzte Katalog schon unter dem Gesichtspunkt interner Konsistenz auf Rationalitätsdilemmata auflaufen muß, so daß man sich fragen kann, wie unter solchen Bedingungen überhaupt entschieden werden sollte. Mich irritiert vielmehr die ausgesprochen konkrete Ebene der Begriffsbildung, die schwer mit den theoretischen Ansprüchen des Autors vereinbar ist. Auf diese Weise kommt er zwar zu einem Allgemeinbegriff rationalen Entscheidens, aber nicht mehr zu einer Distanzierung von Selbstbeschreibungsformeln wie der des Gemeinwohls, die in der Politik im Außenkontakt häufig benutzt wird. Erneut kann man sich vorstellen, daß Herberts Ausführungen bei Politikern auf Beifall stoßen, aber doch nicht, daß sie sich tatsächlich so verhalten, wenn sie sich mit Milieukenntnis am politischen Geschehen beteiligen. Eine Theorie der Systemdifferenzierung hätte hier andere Möglichkeiten geboten. Sie hätte es nahegelegt, zunächst zu fragen: Rationalität im Kontext welchen Systems? Wenn man so fragt, hat man sich von einem alles übergreifenden Konzept der Rationalität längst verabschiedet. Realisierbar bleibt nur Systemrationalität. Bounded rationality, wie man heute sagt, und das ist eine keineswegs alternativenlose, voraussetzungsreiche und Zeit verbrauchende Form der Selbstbeobachtung eines Systems, bei der die Unterscheidung des Systems von seiner Umwelt als nur eine von anderen möglichen Unterscheidungen gehandhabt wird. Auch das politische System kann sich auf diese Weise beobachten, indem es Abstand zu eigenen, politischen Operationen sucht und prüft, wie politische Einscheidungen in der innergesellschaftlichen Umwelt so aufgenommen werden könnten, daß die in dieser Umwelt ausgelösten Effekte ihrerseits zu Ergebnissen führen, mit denen in der Politik ohne größere Turbulenzen, also ohne Auswechslung der Regierung oder der Mandatsträger, weitergearbeitet werden kann.   
Es ist offenkundig, daß rationale Kommunalpolitik dann nur noch eine, oftmals nicht einmal die bestmögliche Option ist. Politisch wäre zwar immer noch, was die Kommunalpolitik als politisch beschreibt, von der Höhe der Parkgebühren über die von Herbert merkwürdig einseitig hervorgehobene Wirtschaftsförderung bis zur Einrichtung des Sperrbezirks für Liebesdienste. Aber eine ausschließlich unter Rationalitätsgesichtspunkten gemachte Politik würde sicher zunächst dazu führen, daß die Quote der Entscheidungen, nicht zu entscheiden, steigt oder - was wir gegenwärtig an politischen Versprechungen zur Beschaffung von Arbeitsplätzen sehr deutlich beobachten können - dazu, daß sich die Politik Probleme sucht, die für sie unlösbar sind, so daß sie gefahrlos Problemlösungen erfinden kann, weil sie ohnehin nichts Effektives zur Steigerung des in der Wirtschaft zu finanzierenden Konsums von Arbeit beizutragen vermag.
Eine letzte Einschränkung ist noch zu formulieren: Daß die Antworten des Autors an weitgehend überholte Theorielösungen anknüpfen, kann man nur bedingt seiner Schrift zurechnen. Meine zugegebenermaßen etwas pauschale Vermutung dazu ist die, daß die in der Geographie übliche Reklamation eigener Zuständigkeit in allen wissenschaftlichen Fragen, sofern sie nur den Raum betreffen oder als den Raum betreffend vorgestellt werden können, Theorieinnovationen eher behindert, als daß sie sie befördert. Auch in der Geographie ist diese Gegenstandsbestimmung inzwischen nicht mehr unumstritten. Als derzeit noch unverzichtbare Prämisse geographischer Forschung legt sie jedoch auf ontologische Positionen fest, nach denen die Wissenschaft ein irgendwie außerhalb der Phänomene angesiedelter objektiver Beobachter ist, der Raumsysteme wie Dinge von einer Metaposition aus beschreibt (S. 34). Zwar kann man auch das noch analysieren als eine der Wissenschaft von der Gesellschaft abverlangte Leistung, die gebraucht wird, um wirtschaftliche, rechtliche und vor allem politische Entscheidungslasten zu externalisieren. Man ist schließlich gutachterlich beraten worden, daß die Realität nun mal so ist, wie sie laut Auskunft der Wissenschaft ist. Aber um dieses Externalisierungsmanöver erkennen zu können, bräuchte man dann schon eine Theorie vom Typus der Systemtheorie, die zwischen verschiedenen Beobachtern und den von ihnen konstruierten Realitäten unterscheiden kann.
Autor: Klaus Kuhm

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 2, S. 91-95