Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. 309 S.

Martina Löws Grundlegungsversuch einer Raumsoziologie geht von der zutreffenden Feststellung aus, dass in den Gesellschaftswissenschaften eine weitgehende Raumblindheit vorliegt, insbesondere bei den dominierenden Konzeptionen. Sie fragt, wie Raum als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden sollte und hält ihn für unverzichtbar, weil nur mit diesem Terminus "die Organisation des Nebeneinanders" bezeichnet werden kann.

Dazu stützt sie sich in erster Linie auf Giddens' Theorie der Strukturierung und ergänzt sie durch einzelne Elemente aus anderen Werken (Bourdieu, Simmel, Einstein u. a.).
Einer kritischen Betrachtung von vorhandenen Raumkonzeptionen folgen Beschreibungen, mit denen Veränderungen von Raumphänomenen bewusst gemacht werden sollen - z. B. in Bildung und Sozialisation Jugendlicher, in Form virtueller Räume, am Beispiel der global cities sowie anhand von Körperräumen. Die Konstitution von Raum wird im Hauptteil der Arbeit in der Wechselwirkung von Handlung und Struktur verortet, wobei schichtspezifische, ortsbezogene, visuelle und methodologische Faktoren vermittelnd und modifizierend zugleich wirken. Einige exemplarische Analysen über gegenkulturelle, geschlechtsspezifische und städtische Räume dienen der abschließenden Veranschaulichung der theoretischen Vorgaben.
Wenngleich die Autorin sich für die Begründung ihrer Theorie auf verschiedene reale Raumtransformationen bezieht, besteht ihr erster Schritt in einem klassisch idealistischen Vorgehen. Raumvorstellungen und -ideen werden den Realitäten des Raumprozesses vorangestellt, um einen theoretischen Blickwinkel a priori festzulegen, aus dem sich alles weitere ergibt. Die zwei zentralen Axiome dazu lauten: 1. Soziologische Raumvorstelllungen sind dann tragfähig, wenn sie grundsätzlich innerhalb philosophisch-physikalischer Denktraditionen bleiben und den Anforderungen einer dualen und relationalen Methodologie genügen. 2. Raum ist als dynamisches Gebilde stets in Handlungsverläufe integriert und aus der Anordnung von Menschen und sozialen Gütern in horizontaler Sicht abzuleiten; dabei besteht der soziale Raum aus materiellen und symbolischen Komponenten.
Damit wird einerseits der Eigencharakter gesellschaftlich bestimmter Raumsysteme und -entwicklungen gegenüber naturwissenschaftlich analysierbaren (biologischen oder physikalischen) Raumphänomenen ignoriert, wodurch das Konzept in die Nähe eines positivistischen Physikalismus gerät. Auch die wenig reflektierte Übernahme des Anordnungsbegriffs aus der Physik Einsteins weist in diese Richtung, zumal sie für Dinge und Menschen gelten soll. Eine gesellschaftswissenschaftliche Perspektive hätte dagegen zu fragen, wer hier wen oder was, in wessen Interesse, aufgrund welcher gesellschaftlichen Verhältnisse oder Machtbeziehungen anordnet bzw. anordnen kann. Schließlich ist die Feststellung materieller und symbolischer Raumelemente eine Banalität, die wenig über Zusammenhänge aussagt - die Löw vom Anspruch her aber (als Relationen) thematisieren will.
Im besten Fall bescheidene Erkenntnisfortschritte verspricht auch (wie die Giddens-Kritik hinreichend gezeigt hat) die Zweiheitslehre (Dualität oder Dualismus), in der die tatsächlichen Wechselbeziehungen zwischen den jeweils erforschten Faktoren oder Sphären zugunsten einer stetig wiederkehrenden Komplementarität oder Gegenüberstellung undeutlich bleiben.
Diesen dualen Ansatz braucht die Autorin auch deshalb, weil sie den Wandel räumlicher Organisation der Gegenwart in ihre Denkweise integrieren möchte; verinselte Vergesellschaftung, geschlechtsspezifische Raumkonstruktionen, virtuelle Räume, die global cities und die Körperräume durchbrechen die Illusion eines konkreten, einheitlichen Raums und zeigen, dass heute virtuelle und reale Präsenz gleichzeitig auftreten, d. h. es gibt derzeit immer noch die Vorstellungen vom homogenen Raum im Alltagsdenken, aber das ist nach Löws Ansicht nur noch ein Teil der Raumvorstellungen, der zweite Teil ist durch Heterogenität chrakterisiert.
Den Hauptteil der Reflexionen nimmt die Konstitutionsdiskussion ein. Fundamental ist die These, dass die Raumkonstitution unmittelbar in den Prozess des Handelns eingebunden ist. Nach einer eher beiläufig (und getreu dem Giddens-Ansatz) vorgenommenen Absage an jeglichen Bezug auf ökonomische und politische Analysen des Raumprozesses (womit sich diese Raumsoziologie insgesamt als immaterielles Projekt definiert), die z. B. bei Läpple eine Rolle spielen, kommt Löw zum Kern ihrer Raumtheorie. Vorher schlägt noch einmal der raumwissenschaftlich dominierte Unterbau durch, denn es soll tatsächlich wieder um die Frage gehen, wie die von Löw skizzierten Räume Gesellschaft strukturieren. Mit dieser Umkehrung der wirklichen Zusammenhänge beschreitet die Autorin den Weg von der Gesellschaftswissenschaft zurück zur Raumwissenschaft - und das als Soziologin!
"Spacing" als Errichten, Bauen oder Positionieren ist der erste Teil des räumlichen Konstitutionsprozesses. Eine bedeutendere Rolle wird jedoch den Syntheseleistungen (Wahrnehmungs-, Vorstellungsund Erinnerungsprozesse) zugeschrieben, weil sie erst die Räume konstituieren und abgrenzen. Der gesamte Konstitutionsprozess wird durch räumliche Strukturen als Regeln und Ressourcen, Geschlechtsspezifik, Abweichung und soziale Ungleichheit mehr modifiziert als mitbegründet. Mit dieser Zentralthese setzt sich trotz aller dualitätsbezogenen Argumente in der unausgesprochenen Kontroverse zwischen Materialismus und Idealismus, die das Buch wie einen unbewussten roten Faden durchzieht, eindeutig das Erbe Simmels gegenüber einem gelegentlich dialektisch erscheinenden Denken durch. Folge davon ist z. B. die Erklärung sozialer Ungleichheit aus der Raumkonstitution.
Die Raumkonstitution kann natürlich letztlich nur noch durch die Syntheseleistungen und die symbolischen Elemente fundiert und erklärt werden, sobald die politische Ökonomie des "Spacing" und der Syntheseaktivitäten zurückgewiesen wird. Ergebnis ist, dass der Raum als Ganzes am Ende keine Materialität mehr aufweist.
Die Erläuterung der exemplarischen Analysen im Schlussteil belegt das nachhaltig. Extrem flüchtige Räume, in überwiegend mikrosozialen und kurzzeitigen Kontexten entstanden, werden jetzt zur beherrschenden Repräsentation von Löws Raumtheorie. Sie beruhen auf Atmosphären von Zimmern, Aktionsradien kleiner und kleinster Gruppen und Raumverknüpfungen im Tageshorizont des individuellen Bewusstseins. Am Ende verflüchtigt sich der gnoseologische Physikalismus in sehr schwache, stets in Auflösung befindliche Arrangements, wobei der eingangs betonte relationale Raumbegriff zerfließt und in konstruktivistischer Virtualität versickert.
Eine profunde gesellschaftswissenschaftliche Raumsoziologie bleibt ein dringendes Desiderat. Martina Löws Programm bietet einige Thesen zu einer philosophischen Raumtheorie. Da es dem vorliegenden Buch aber nicht nur an gedanklicher Frische und Originalität mangelt, sondern auch ein Begriff von Gesellschaft, eine konkrete Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und der entsprechenden Raumverhältnisse sowie dem Weg vom Formalen zu den Inhalten des Sozialen fehlen, erscheint die Konzeption wenig erfolgversprechend. Die Arbeitet bietet nicht viel mehr als eine Themensammlung für kulturelle Raumphänomene. Unter der Hand setzt sich in Löws Buch ein (wohl voreilig) überwunden geglaubter "spatialism" - hier unter symbolisch-idealistischen Vorzeichen - von Seite zu Seite stärker durch. Von einem geglückten Ausweg aus den nicht einfach lösbaren Problemen der Diskussion um Raum und Gesellschaft bleibt die Autorin dadurch weit entfernt. Dennoch können auch die hier vorgetragenen, prätentiös-hypertroph anmutenden Raumreflexionen als Ansporn verstanden werden, Raum schlicht, aber präzise als Teilausschnitt von Gesellschaft zu definieren. Ein solches Konzept allein kann die weitere Überfrachtung und Spreizung des Raumbegriffs verhindern.
Literatur
Läpple, Dieter 1991: Essay über den Raum. In: Hartmut Häußermann u. a.: Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler. S. 157-207.
Simmel, Georg 1957: Brücke und Tor. Essays des Philosophischen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart.
Autor: Heinz Arnold

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 2, S. 103-105