Manel Aisa, u.a. (Hg.): Rebellisches Barcelona. Aus d. Span. v. Horst Rosenberg. Hamburg 2007. 285 S.

"Barcelona ist, wie jede andere Stadt auch, immer ›etwas anderes‹" (11) - anders als das Barcelona der Touristen, der aufstrebenden ›jungen Kreativen‹, der städtebaulichen Modernisierung,der Wohnraumspekulation, der kommerziellen Events. Dieser reich bebilderte und mit Karten ausgestattete Reiseführer zeigt "ein anderes Barcelona als das der Herrschenden" (268): das Barcelona der Marginalisierten und Verdrängten, der sozialen Bewegungen, der Aufstände und Streiks, der autonomen sozialen und kulturellen Zentren.

Die Geschichte dieses "rebellischen Barcelona" setzt sich wie ein Mosaik zusammen aus kurzen Berichten und Anekdoten, aus Porträts und Selbstdarstellungen. Diese sind, gegliedert nach Stadtteilen, jeweils konkreten Orten, Straßen oder Plätzen zugeordnet. Auf diese Weise erschließt sich eine Sozialgeschichte des proletarischen sowie des ›alternativen‹ Barcelona, nicht abstrakt, sondern durch das unmittelbar Fassbare. So wird Francesc Ferrer i Guàrdia portraitiert, der Vordenker der rationalistischen und libertären Escuela Moderna und somit einer Vielzahl von autonomen und gewerkschaftlichen Bildungsstätten in den ersten 30 Jahren des 20. Jh. Er wurde wie unzählige andere auf dem Festungsberg Montjuïc hingerichtet (51f). Geschildert wird auch das Wirken von Teresa Claramunt, "einer der zentralen Figuren in der Entwicklung des katalanischen Anarchismus" (222) und eine von drei Frauen, die 1889 im Stadtviertel Raval die erste feministische Organisation Spaniens gründeten. Der Reiseführer erinnert an Orte von Aufständen, wie den Stadtteil Besòs, in dem sich im Mai 1977, kurz nach Soziale Bewegungen und Politik dem Ende der Diktatur, die Bewohner wegen mangelnden und minderwertigen Wohnraums erhoben und mit Demonstrationen und massenhaften Besetzungen, in "Selbstorganisation" und mit "direkter Aktion als Praxis" (138), den Bau neuer Wohnblöcke erkämpften. Zentrales Anliegen ist Verf. die Umdeutung der Symbolik städtischer Räume, bspw. der Atarazanas-Kaserne, die als heutiges Marine-Museum am Ende der Flaniermeile Las Ramblas für die Ausrichtung Barcelonas auf den globalen Tourismus steht. Gleichzeitig war sie Schauplatz eines der zentralen Momente des Bürgerkriegs, als sie am 20. Juli 1936 als letzte Bastion der putschenden Militärs von der berühmten Gruppe Nosotros um Buenaventura Durruti eingenommen wurde (237f). Das benachbarte Kolumbus-Denkmal wird von dieser Art der gegenhegemonialen Geschichtsschreibung gedeutet als ein Symbol des "Genozids" (199) sowie der Wurzeln der katalanischen Bourgeoisie in der kolonialen Sklavenwirtschaft (201).


In den detaillierten, oft packenden, häufig von Zeitzeugen niedergeschriebenen Anekdoten liegt die Stärke dieses Reiseführers. Die Schwächen offenbaren sich im einleitenden Kapitel sowie im von Manuel Delgado für die deutsche Ausgabe geschriebenen Vorwort. Die eindimensionale Gegenüberstellung von unten und oben, von Widerstand und Herrschaft, von gut und böse zeigt sich hier besonders deutlich. Ein "alter Geist der Rebellion und des Misstrauens gegenüber den Herrschenden" (10) wird mit viel Pathos beschworen; dessen "reine kollektive Energie" (11) scheint den "Parteigängern des Todes (...): Kapital, Staat, Kirche und Armee" (15) diametral und beziehungslos gegenüberzustehen. Gleichzeitig dominieren die spektakulären Ereignisse bewaffneter Aktionen gegenüber den Mühen der Ebene institutioneller Kämpfe. Mehr als einmal wird dabei die Grenze zu einer Romantisierung und Folklorisierung von Protest und Widerstand überschritten. Deutlich wird die Problematik einer solchen Gegenüberstellung nicht zuletzt in der Beurteilung der sozialen Kämpfe im und nach dem Übergang zur repräsentativen Demokratie. Sie muss als "totalitäre Demokratie" (213) ebenso kategorisch abgelehnt werden wie die ›feudale Herrschaft‹ der beginnenden Industrialisierung oder die Diktatur. Eine Beschreibung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen sozialen Kämpfen und den Transformationen von Herrschaftsausübung, wie man sie andeutungsweise am Beispiel autonomer Frauenzentren finden kann (259), bildet da die Ausnahme. Dabei wäre gerade die Frage nach solchen Prozessen spannend: Inwieweit basiert z.B. die Modernisierung und Aufwertung der Innenstadt auch auf der Vermarktung der ›lebendigen‹ und ›kreativen‹ alternativen Szene? Kann eine Ursache der Rigorosität, mit der diese Modernisierung durchgesetzt werden konnte, auch in der Ausrichtung auf Autonomie und in der fehlenden Bereitschaft zur institutionellen Intervention der sozialen Bewegungen gesehen werden?
Es ist allerdings das Verdienst des Buches, diese Fragen überhaupt zu provozieren. Die Geschichte des "rebellischen Barcelonas", seiner Protagonisten und seiner Schauplätze wird unter der glänzenden Oberfläche der sanierten Jugendstil-Fassaden, der Museen und der touristischen Flaniermeilen hervorgeholt. Mit diesem Reiseführer in der Hand öffnet sich der Blick auf "ein anderes, freies und aufständiges Barcelona", das, so die Hoffnung der Verf., "keine Utopie - kein Nirgendort - ist, sondern hier und heute wieder entstehen kann" (268).
Autor: Armin Kuhn

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, Heft 3, S. 532-533