Hubert Kiesewetter: Region und Industrie in Europa 1815-1995. Stuttgart 2000 (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, Band 2). 224 S.
In jüngster Zeit haben nicht nur viele Wirtschaftswissenschaftler die Wirtschaftsgeographie neu entdeckt, auch in den Geschichtswissenschaften ist am Ende des 20. Jahrhunderts ein wachsendes Interesse für wirtschaftsgeographische Themen festzustellen. Vor allem unter Einfluss des britischen Wirtschaftshistorikers Sidney Pollard ist die Vorstellung eines ungleichmäßigen regionalen Wachstums als wiederentdecktes Paradigma in die wirtschaftshistorische Forschung eingetreten.
So kommt das 1992 veröffentlichte Sonderheft des Jahrbuches für Wirtschaftsgeschichte mit dem Titel Regionale Industrialisierung zu der Erkenntnis, dass die Industrialisierung in europäischen Staaten ein regionales Phänomen war und Regionen, nicht Nationalstaaten, die Motoren wirtschaftlichen Wachstums sowie die Arbeits- und Lebensgrundlage handelnder Menschen waren und zum Teil sind. Auch die Arbeiten von HUBERT KIESEWETTER und sein jüngstes Buch, Region und Industrie in Europa 1815-1995, sind in diesen Rahmen einzuordnen. Innerhalb der Wirtschaftsgeographie werden diese Arbeiten viel zu wenig wahrgenommen. Vor allem im Bereich des industriellen Strukturwandels und Regionalentwicklung wäre eine intensivere Kooperation mit Wirtschaftshistorikern sehr fruchtbar. Manche industrielle Erfahrungen, wie zum Beispiel die der Konversion der Rüstungsindustrie, gab es in der Geschichte der Menschheit schon oft, so dass interessante theoretische Erkenntnisse aus historischen Erfahrungen abgeleitet werden können, die zum Teil bis zur Gegenwart Gültigkeit besitzen.
Das zu besprechende Buch zielt darauf ab, die folgende These mit historischen Fakten zu belegen: Die räumliche Differenzierung der Wirtschaft im Nationalstaat stellt keine verblassende historische Reminiszenz des Industriezeitalters dar, sondern muss die Zukunft der Europäischen Union bestimmen. Das Buch besteht aus drei Teilen: methodischen und theoretischen Grundlagen (Teil A), historischen und statistischen Entwicklungen (Teil B) und disziplinübergreifenden Modellen (Teil C). In Teil A werden zuerst Gebietsänderungen und die Verdrängung von Territorien durch die Etablierung von europäischen Nationalstaaten zwischen 1600 und 1815 in Großbritannien, Frankreich und Preußen analysiert. Die Analyse zeigt, dass Staaten, langfristig gesehen, keine unveränderlichen Territorialgebilde sind. Im weiteren Verlauf des Teils B werden die für Wirtschaftsgeographen bekannten theoretischen Grundlagen der Regionalforschung recht ausführlich dargestellt (Johann Heinrich von Thünen, Wilhelm Launhardt, Alfred Weber, Walter Christaller, August Lösch und Walter Isard). Diese Theorien werden behandelt, da sie die in dem Buch behandelten Industrialisierungsperioden zeitlich repräsentativ vertreten. Am Ende der Abhandlung der Theorien schlussfolgert KIESEWETTER allerdings, dass die behandelten Theorien vor allem von Produktionsunternehmen ausgehen und dass die Region, die ja in diesem Buch eine zentrale Position inne hat, in den Theorien selten thematisiert wird, "weil sie die Einbeziehung von nichtökonomischen und nichtgeographischen Determinanten erfordert, die in ein mathematisch oder ökonometrisches Modell nur schwer zu integrieren sind" (S. 106). An dem Punkt fragt man sich warum der Autor gänzlich auf die Einbeziehung neuerer theoretischer Einsichten in der Wirtschaftsgeographie (Industriedistrikte, innovatives Milieu, regionale Innovationssysteme usw.) verzichtet (für eine Übersicht, siehe SCHAMP). Diese neuen Konzepte versuchen gerade die oben genannten Defizite der klassischen Theorien aufzuheben und können auch rückwirkend entscheidend zur Erklärung regionalwirtschaftlicher Disparitäten beitragen. Es kann allerdings sein, dass die Behandlung dieser Konzepte zu einem späteren Zeitpunkt aufbewahrt wird, denn viel früher im Text, auf Seite 25, schreibt KIESEWETTER, dass er in einem später zu schreibenden Buch, Wohlstand der Regionen, die in diesem Buch außer Acht gelassene Rolle politischer Instanzen für regionales wirtschaftliches Wachstum herausarbeiten möchte.
In Teil B, historische und statistische Entwicklungen, zieht Kiesewetter zuerst die Aufmerksamkeit auf die wichtige Rolle des Steinkohlenbergbaus in verschiedenen Industrienationen Westeuropas. Anschließend geht er auf das Drei-Sektoren-Modell von Jean Fourastié ein und unternimmt einen Versuch dessen Vorhersagen zu widerlegen. Nachdem er zwölf europäische Regionen mit überdurchschnittlichem Beschäftigtenanteil im sekundären Sektor selektiert und auf detaillierter Art und Weise porträtiert hat, kommt er zu der wissenschaftlich unzulässigen Schlussfolgerung, "dass die Vorstellung einer postindustriellen, tertiären Gesellschaft, die nach Fourastié an der Jahrtausendwende realisiert sein sollte, in das Reich der Fabeln gehört" (S. 175). Auf der gleichen Seite zieht er als weitere Schlussfolgerung, dass ein auf Produktinnovationen basierter industrieller Wettbewerb nur auf regionaler Ebene erfolgreich verlaufen kann, ohne, dass es dafür im Text deutliche empirische Unterstützung gibt.
Im letzten Teil, disziplinübergreifende Modelle, versucht KIESEWETTER durch eine Typologisierung von Regionen, die Beliebigkeit womit Regionen als Forschungsobjekte benutzt werden, zu überwinden. Seine Typologisierung besteht aus Stadtregionen, Industrie- und Montanregionen, Gewerbelandschaften, Landesregionen und Regionen nach dem Regionalprinzip. Es wird nicht deutlich, inwieweit sich diese Regionstypen voneinander unterscheiden beziehungsweise überlappen. Es scheint KIESEWETTER vor allem darum zu gehen, klarzumachen, dass eine Homogenisierung der Gebietsgröße der Regionen angestrebt werden soll, so dass Regionen besser miteinander verglichen werden können. So schreibt er zum Beispiel, dass Industrieregionen als Analyseeinheit oft zu klein sind, so dass alle Einflussfaktoren auf die Industrialisierung in Regionen nicht mit einbezogen werden können. Um dieses Problem zu lösen, plädiert er dafür, eine Regionsgröße von über 5000 km2 heranzuziehen. Diese Größe scheint mir nicht nur völlig beliebig, sie wird auch nie ausreichen, um alle Einflussfaktoren auf die Industrialisierung in Regionen zu erfassen. Die Schlussfolgerung des Buches lautet, dass ein zukünftiges Europa regional bzw. föderal gegliedert sein muss, wenn ein dauerhafter wirtschaftlicher Wohlstand und ein friedliches Zusammenleben europäischer Nationalstaaten erreicht werden soll. "Europas kulturelle, politische und ökonomische Größe ist durch die Vielfalt der Regionen entstanden; jede zentralistische Maßnahme birgt die Gefahr, diese produktive und dynamische Vielfalt zu zerstören" (S. 196).
Insgesamt kommt HUBERT KIESEWETTER in seinem Buch zu einigen interessanten Gedanken. Leider schafft er es jedoch nicht, diese Gedanken mit Hilfe der Empirie logisch und überzeugend zu untermauern. Außerdem blendet er durch den Verzicht auf moderne Theoriekonzepte einen Großteil der Erklärungsversuche von regionalwirtschaftlichen Disparitäten aus. Obwohl ich eine engere Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsgeographen und Wirtschaftshistorikern mit voller Überzeugung befürworte, scheint mir dieses Werk als Einstieg für eine solche Kooperation eher ungeeignet.
Literatur
SCHAMP, E. W. (2000): Vernetzte Produktion: Industriegeographie aus institutioneller Perspektive. Darmstadt.
Autor: Robert Hassink