Günter Wolkersdorfer: Politische Geographie und Geopolitik zwischen Moderne und Postmoderne. Heidelberg 2001 (Heidelberger Geographische Arbeiten, Heft 111). 256 S.

Obwohl man durchaus der Ansicht sein könnte, dass vieles, worüber Geographinnen und Geographen weltweit arbeiten "politisch" ist, hat es die Politische Geographie schwer. Insbesondere durch ihren Ableger "Geopolitik", aber auch aufgrund einer allgemeinen Distanz zu normativer Argumentation und Gesellschaftskritik während des kalten Krieges, wurde auch die politische Geographie disziplinintern weitgehend auf Eis gelegt. Sie scheint sich bis heute nicht von ihrer Unterkühlung erholt zu haben, und das mag durchaus auf mangelnde Reflexion der Disziplingeschichte und ihrer methodologischen Probleme zurückzuführen sein.

In den letzten Jahren ist jedoch international ein Wiedererwachen der politischen Geographie und die Etablierung einer "critical geopolitics" festzustellen. Dieser Prozess wurde von Heidelberger Geographinnen und Geographen nicht nur beobachtet, sondern auch für die deutschsprachige Szene geöffnet und vorangetrieben. In diesem Kontext legt nun WOLKERSDORFER eine Dissertation vor, die zugleich als Einführung und "state of the art"-Report zu diesem Thema gelesen werden kann.
Die in den Debatten um Moderne und Postmoderne artikulierten handlungs- und vor allem diskurstheoretischen Perspektiven bilden die methodologische Grundlage für WOLKERSDORFERs Auseinandersetzung mit der politischen Geographie. Über diese kritisch-reflexive Erörterung will er einen Beitrag zum Verständnis der Attraktivität und des Erfolges räumlich-ethnischer Kodierung von Konflikten leisten.
In fünf Kapiteln nähert sich WOLKERSDORFER diesem Ziel. Die postmoderne Kritik an der Dominanz zeitlicher Erzählungen der Moderne - die Moderne konstituiert sich ja selbst als eine Epoche des Fortschritts - führt über die Forderungen von Foucault und Soja, die räumliche Dimension zu stärken, zur Gefahr von Hypostasierungen des Raumbegriffes und von Raumdeterminismen. Damit ist die diskurstheoretische Problematik von politischer Geographie und insbesondere Geopolitik aufgezeigt. Kapitel zwei rollt vor diesem Hintergrund das Verhältnis von politischer Geographie und Geopolitik disziplingeschichtlich auf. Kapitel drei führt in das diskursanalytisch-dekonstruktive Programm der "critical geopolitics" ein und illustriert es an Beispielen. In Kapitel vier versucht WOLKERSDORFER über die Diskussion des Verhältnisses von Handlung und Struktur bzw. Mikro- vs. Makro-Ebene eine Vermittlung zwischen den zuvor eingeführten diskurstheoretischen und den handlungstheoretischen Positionen zu erreichen. Das letzte Kapitel löst das inhaltliche Forschungsziel in Form einer Fallstudie ein: Sie rekonstruiert, wie sich ökonomische und ethnische Diskursstrategien im Konflikt um Kohleabbau und Umsiedlung des "sorbischen Dorfes" Horno in politischen und juridischen Institutionen durchsetzen.
WOLKERSDORFER pflegt einen unverkrampften Argumentationsstil. Das kommt ihm insofern zugute, als er dadurch auf sehr umfassende Weise in die relevante Literatur einführen und ein breites Spektrum von Ansätzen und Arbeiten zueinander in Beziehung setzen kann. Es bereitet intellektuelles Vergnügen, seiner kritischen, aber nicht auf Ausschluss gerichteten theoretischen Diskussion zu folgen. Seine eigene Perspektive oszilliert zwischen Diskurs- und Handlungstheorie, und sein Versuch, zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln überzeugt nicht restlos, zum einen, weil der Unterschied zwischen "Struktur" und "Makroebene" nicht streng gehandhabt wird, zum Anderen, weil durch die Anlage der Diskussion die zu hoch gesteckte Erwartung provoziert wird, quasi die Perspektiven von Foucault und Habermas zusammenzuführen. Trotz dieser kleinen Unsicherheit lässt sich getrost behaupten, wer diese Arbeit inkorporiert, trimmt sich fit für die aktuelle methodologische Diskussion um die politische Geographie. Und in diesem Sinn kann ich dieses Buch nur zur Lektüre empfehlen!
Wer allerdings der Ansicht ist, dass vieles, worüber Geographinnen und Geographen weltweit arbeiten "politisch" ist, wird es mit der Politischen Geographie weiterhin schwer haben. Eine der "politischsten" Differenzen, die auch stets heftig verhandelt wird, ist die Abgrenzung des Politischen selbst. Man denke nur an die Konflikte um die politischen Rechte von Frauen, um die Konstitution von Freiheit und Privatsphäre, um die Unabhängigkeit von Medien oder die Repräsentation nicht-menschlicher Wesen, und die Selbstverständlichkeit der Bezeichnung "Politische Geographie" ist dahin. Da dem Problem der Unterscheidung zwischen Politik und anderen Handlungsbereichen keine systematische Aufmerksamkeit beigemessen wird, bleibt unklar, was aus welcher Perspektive jeweils eine "Politische Geographie" konstituieren sollte. Obwohl die Arbeit deutlich von staatszentrierten Politikverständnissen Abstand nimmt, stellt sich eine kritisch-reflexive Distanz zu offiziellen Definitionen des Politischen nicht zwingend ein. Was Ulrich Beck "Subpolitik" nennt, und wofür gerade nicht-moderne Perspektiven Sensibilität beanspruchen, kommt nicht explizit zur Sprache. In Bezug auf diese Indifferenz gegenüber der grundsätzlichen Aushandlung von Anerkennungsverhältnissen fällt die Arbeit hinter ihre eigenen Ansprüche zurück.
Diesen Umstand, dass das "Politische" nicht von der Gesellschaft her, sondern umgekehrt, als schon "politisch" anerkannter Aspekt der Gesellschaft für die Geographie aufgerollt wird, möchte ich jedoch dem Autor nicht alleine anlasten, sondern der geographischen Debatte insgesamt! Auch in dieser Hinsicht repräsentiert die Arbeit nämlich "state of the art".
PS: Man hält ein gut geschriebenes und sehr attraktiv aufgemachtes Buch in seinen Händen. Leider wird das Lesevergnügen allzu oft durch Flüchtigkeitsfehler getrübt: Es fehlt der letzte Schliff! Bei den Produktionsbedingungen einer Institutsreihe sind die Ressourcen für Qualitätssicherung naturgemäß bescheiden. Aber weshalb landet eine solche Arbeit nicht bei einem Verlag mit Lektorat? Eine Frage der disziplininternen Subpolitik?    
Autor: Wolfgang Zierhofer

Quelle: Erdkunde, 56. Jahrgang, 2002, Heft 2, S. 237-238