Gavan McCormack: The Emptiness of Japanese Affluence. London 2001. 311 S.

Der australische Historiker GAVAN MCCORMACK ist Professor für Geschichte Japans an der Australian National University und mit seiner langjährigen Japan-Erfahrung ein ausgewiesener Kenner des Landes. Mit seinem Werk "The Emptiness of Japanese Affluence", das 2001 in einer Neuauflage veröffentlicht wurde, zielt er auf eine kritische Bestandsaufnahme der Entwicklung der japanischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit ab. Der besondere Reiz des Buches liegt in seiner thematischen Breite, die eine Leserschaft unterschiedlicher mit Japan befasster Disziplinen - auch der Geographie - anspricht.

Zentrales Thema ist das zutiefst widersprüchliche Selbstverständnis "der Japaner", die - so die zentrale These des Autors - in einer moralisch-ethisch weitgehend ausgehöhlten Überflussgesellschaft leben. Das politökonomische und gesellschaftliche System Japans sei durch drei "C" - "Construction", "Consumption", "Control" - gekennzeichnet, die weite Teile der Bevölkerung zunehmend gleichgültig gegenüber traditionellen Normen und Werten werden lasse.
In drei Hauptteilen mit insgesamt sechs Kapiteln werden jeweils unterschiedliche Schwerpunkte der Betrachtung gesetzt: Teil 1 steht unter der Überschrift "Politische Ökonomie" und behandelt mit dem "Baustaat" (Kapitel 1), dem "Freizeitstaat" (Kapitel 2) und dem "Agrarstaat" (Kapitel 3) drei zentrale, zum Teil besonders kontrovers diskutierte Problemfelder der modernen Landesentwicklung Japans. Teil 2 umfasst unter der Überschrift "Identität" die Kapitel "Regionalstaat" (Kapitel 4) und "Friedensstaat" (Kapitel 5) und diskutiert wichtige Fragen der nationalen Identität Japans im internationalen Kontext. Im 3. Teil schließlich leitet der Autor unter der Überschrift "Erinnerung" aus einer kritischen Analyse der Umgehensweise Japans mit seiner Kriegsvergangenheit (Kapitel 6) zu einem Ausblick auf die Herausforderungen für die zukünftigen Generationen Japans über: 1. die Aussöhnung mit den Nachbarstaaten in Ost- und Südostasien durch die Übernahme der vollen moralischen Verantwortung für die Kriegsverbrechen Japans, 2. die Definition einer "japanischen Identität", die weder den Bezug zu Asien noch den Bezug zum Westen negiert, und 3. der Wandel zu einem "nachhaltigen" Lebensstil, der jenseits des Konsums auch gesellschaftlichen Werten folgt. MCCORMACK bietet in diesem Zusammenhang drei alternative "C"-Prinzipien an, die seiner Ansicht nach einen Ausweg aus der "inneren Leere des materiellen Überflusses" aufzeigen und den Weg zu einer "nachhaltigen Entwicklung" ebnen: "Community", "Cooperation", "Conservation". Deren konkrete Inhalte werden jedoch nicht weiter definiert. Mit Blick auf die derzeitige politische Prioritätenliste Japans relativiert der Autor die Realisierbarkeit dieser Prinzipien zudem erheblich.
MCCORMACK gelingt es in eindrucksvoller Weise, die bei der Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses zunächst mehr oder weniger isoliert erscheinenden politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Problemfelder zu vernetzen. Besonderen Wert legt er dabei auf die Interdependenz der Strukturen und Prozesse auf der supranationalen, nationalen und subnationalen (regionalen und lokalen) Raummaßstabsebene. Hierin liegt auch der Reiz des Buches für die Geographie begründet. Insbesondere Teil 1 liefert unter Aspekten der Neuen Politischen Ökonomie zahlreiche inhaltlich und konzeptionell anregende Akzente für die Human- und Wirtschaftsgeographie, die sich gerade in jüngerer Zeit intensiver mit institutionentheoretischen Ansätzen beschäftigt.
Die zum Teil reichlich Diskussions-Sprengstoff beinhaltenden Themen - beispielsweise die Korruption des "Baustaats", die hausgemachten Strukturprobleme des kriselnden Agrarsektors, das Verhältnis Japans zu seinen asiatischen Nachbarstaaten, die Frage der Reform des Friedens-Artikels 9 der japanischen Verfassung, die Perzeption der japanischen Kriegsvergangenheit in Japan - werden in einer detaillierten und ausgewogenen Darstellung präsentiert. Dennoch spart der Autor im Rahmen seiner kenntnisreichen Analysen nicht mit Kritik, beispielweise wenn es um die Auswüchse des "Eisernen Dreiecks" geht, des seit Jahrzehnten gepflegten Systems der gegenseitigen Abhängigkeit von Wirtschaft, Politik und Bürokratie. Versuche allerdings, MCCORMACK in die Nähe des "Japan-bashing" rücken zu wollen, täten dem Autor Unrecht. Denn methodisch basiert die Arbeit fast ausschließlich auf der Auswertung originär japanischer Quellen, dem fachlichen Diskurs mit japanischen Wissenschaftlern, Experten und Vertretern der gesellschaftlichen Eliten sowie nicht zuletzt den persönlichen Erfahrungen des Autors im Lande. Dies macht deutlich, dass viele der in dem Buch skizzierten Problemfelder längst auch in Japan als solche erkannt sind, kontrovers diskutiert und von japanischen Experten handfest kritisiert werden.
Trotz der Komplexität der Thematik bleibt die Argumentation nachvollziehbar. Wichtige Begriffe, die typisch japanische Phänomene beschreiben, werden im jeweiligen Kontext eingeführt und erläutert. Die im allgemeinen sachlichen Formulierungen des Autors erhalten lediglich in den zusammenfassenden Kapitelenden, die stark von normativen Aussagen geprägt sind, einen teilweise übertrieben wirkenden moralisierenden Anstrich. Da MCCORMACK parallel hierzu auf eine geringe Reformbereitschaft und ein wenig ausgeprägtes Problembewusstsein weiter Teile der japanischen Bevölkerung inklusive der gesellschaftlichen Eliten verweist, kann der Leser in seiner Einschätzung der Veränderungspotentiale allerdings nur zu einem resignativen Schluss gelangen. Die Formulierung etwas weniger anspruchsvoller moralisch-ethischer, dafür mehr konkret-praktischer Reformansätze würde vielleicht auch eine etwas optimistischere Sichtweise zulassen.
Insgesamt bleibt der Eindruck einer tiefgründig-kritischen und ausgewogenen Analyse, die zentrale Probleme der modernen japanischen Gesellschaft in ihrem historischen Kontext aufzeigt und zugleich Zielaussagen bezüglich ihrer zukünftigen Entwicklung formuliert. Vage bleibt allenfalls der theoretische Bezugsrahmen, der eher implizit auf institutionentheoretische Ansätze rekurriert. Dennoch ist das thematisch anregende Buch, das bei Betrachtung der jüngeren Japan-Berichterstattung an Aktualität wenig eingebüßt hat, jedem Japan-Interessierten zur Lektüre zu empfehlen.
Autor: Thomas Feldhoff

Quelle: Erdkunde, 56. Jahrgang, 2002, Heft 3, S. 330-331