Uta Hohn: Stadtplanung in Japan. Geschichte - Recht - Praxis -Theorie. Dortmund 2000. 616 S.

Die vorliegende voluminöse Publikation von 615 Seiten ist die Habilitationsschrift von Uta Hohn, die ein außerordentlich komplexes und vielschichtiges Thema behandelt, dessen souveräne Bewältigung hohen wissenschaftlichen Respekt abnötigt. Es ist vermutlich das erste große Werk, das einen umfassenden Überblick über die urbane Planungsgeschichte und städtisches Planungsrecht in Japan gibt und zudem die Planungspraxis anhand zahlreicher Fallstudien darstellt.

Eine der grundlegenden Thesen von Frau Hohn ist, daß sich die japanische Stadt in weiten Bereichen durch Lebendigkeit, Nutzungsmischung, Urbanität und Vielfalt, wie auch durch bauliche Dichte erheblich von den Stadträumen Europas und insbesondere Nordamerikas unterscheidet und dass diese "chaotische" bzw. zunehmend fragmentierte Stadtstruktur vor allem auch die Folge einer "chaotischen" Stadtplanung bzw. des weitgehenden Fehlens einer Flächennutzungsplanung der 50er und 60er Jahre ist. Der Begriff "chaotisch" wird bei Frau Hohn allerdings als Ausdruck von intensivem städtischen Leben eher positiv gewendet, wenn auch diese Entwicklung die Stadterneuerungsplanung vor kaum lösbare Probleme stellt.
Vor diesem Hintergrund lässt Frau Hohn in ihrem Einleitungskapitel die westliche Planungstheorie bzw. westliche Stadtforschungsansätze Revue passieren, insbesondere geht sie auf die Kontroverse zwischen den Leitbildern "kompakte" und "vernetzte" Stadt ein. Sie läßt keinen Zweifel daran, daß ihre Sympathie eher der Idee der kompakten Stadt gehört bzw. einer ostasiatischen Variante, für die McGee 1991 den Begriff "Desakota" geprägt hat. Mehrfach betont Uta Hohn die begrenzte Reichweite von westlichen theoretischen Ansätzen, welche die "dreigeteilte", "viergeteilte" oder "fragmentierte" Stadt im Gefolge des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus, gekoppelt mit dem Übergang in ein neues Regulationssystem, beschreiben.
Der eigene theoretische Ansatz ist, wie kaum anders zu erwarten, keinem Forschungsdesign verpflichtet, das den klassischen Regeln (strenge Hypothesengeleitetheit) des kritischen Rationalismus entspräche, sondern er versucht eher den Forderungen der sog. qualitativen Sozialforschung zu genügen. Frau Hohn fühlt sich der kritischen Hermeneutik verpflichtet; sie will gewissermaßen Stadtplanung, Stadterneuerung und Stadtumbau in Japan umfassend analysieren. Umfassend heißt in ihrem Kontext, dass der gesamte Rahmen stadtplanerischer Entscheidungen in seinen sozio-kulturellen, ökonomischen, historischen, politischen, institutionellen, rechtlichen oder personellen Dimensionen erfasst und analysiert werden soll. Diese Rahmenbedingungen sollen zudem auf der Mikro-, Meso- und Makroebene erhellt und miteinander verknüpft werden. Frau Hohn will damit den Anspruch einzulösen, die "naive" Hermeneutik vieler westlicher Beobachter zu überwinden und die städtebaulichen Resultate von Planung zu "demaskieren".
Dieser multiperspektivische und komplexe Untersuchungsansatz umreißt auf der einen Seite ein gewaltiges Untersuchungs- und Forschungsprogramm, andererseits birgt er die Schwäche in sich, dass er auszuufern droht. Ohne die beeindruckende Leistung von Frau Hohn schmälern zu wollen, fällt auf, daß es kaum hypothesengeleitete konkrete Fragestellungen oder Auswahlkriterien gibt. Fast alle Ereignisse, Fakten und Umstände werden gleichermaßen wichtig, weil sie eine Bedeutung für eine Planungsentscheidung oder einen städtischen Entwicklungsprozeß haben können. Die Ausbreitung des gesamten, nur wenig selektierten Stadtplanungs- und Stadtentwicklungskosmos macht beispielsweise das Lesen der an sich sehr instruktiven Fallbeispiele manchmal schwierig, weil sich der Stellenwert der mitgeteilten Informationen nicht immer oder erst mit einer gewissen Verzögerung erschließt.
Eine thematische Einengung findet selbstverständlich insofern statt, als sich Frau Hohn auf die zentralen Aspekte "Stadterneuerung und Stadtumbau" japanischer Städte konzentriert, wobei Stadterneuerung eher die bauliche und funktionale Erneuerung auf der städtischen Mikroebene meint, Stadtumbau dagegen einen tiefgreifenden Funktionswandel durch Umnutzung vorhandener Flächen (Brachflächen oder Abriß vorhandener Gebäude). Einen wichtigen Aspekt stellt auch die von den Bewohnern mitgetragene Planung auf der städtischen Mikroebene dar, die unter dem Terminus "Machizukuri" als bottom up-Planung in die Literatur eingegangen ist.
Die Analyse der Planungspraxis (Kap. 4) erfolgt anhand von 16 typischen Fallbeispielen, deren Auswahl auf der Grundlage von Leitfragestellungen erfolgte, die sechs Haupttypen der Stadterneuerung und des Stadtumbaus zugeordnet wurden (Kriterien: stadträumliches Lagepotential, Planungsziele, Planungsträger usw.). Die case studies sind meines Erachtens sehr einleuchtend ausgewählt worden, um die verschiedenen Varianten von Stadterneuerung und Stadtumbau bzw. von "Machizukuri" in angemessener Weise abzudecken: Dies gilt z.?B. für die Stadtumbauprojekte im Umfeld wichtiger Bahnhöfe oder auf (geschaffenen) Brachflächen in attraktiven innerstädtischen Lagen wie etwa das Nebenzentrum West-Shinjuku in Tôkyô, Abeno südwestlich des Bahnhofs Tennôji in Ôsaka oder die Fallbeispiele Sakuranomiya-Nakano, Yodogawa-Riverside und Takami Floral Town in Ôsaka.
Dies gilt besonders auch für die Auswahl und sehr subtile Darstellung unterschiedlicher Machizukuri-Projekte zur Wohn- und Wohnumfeldverbesserung, etwa des Kyôjima-Distrikts in Tôkyô oder des innerstädtischen Problemgebiets Mano in Kôbe. Manchmal ist allerdings, wie erwähnt, die Fülle der Informationen zu den Fallbeispielen etwas verwirrend.
Die Analyse der Fallbeispiele in allen ihren Verzweigungen und Implikationen war nur möglich, weil Frau Hohn mit einer beeindruckenden Beharrlichkeit sehr tief in die japanische Stadtplanungspraxis "hinabzusteigen" vermochte. Auswahl und Darstellung der Fallbeispiele beleuchten auch die spezifische "empirische" Vorgehensweise von Frau Hohn. Ihre Empirie ist nicht die eigene Erhebung wie etwa die Befragung von betroffenen Bürgern, ihre empirische Basis ist die Auswertung sehr unterschiedlicher japanischer Quellen. Ausdrücklich ist hier hervorzuheben, daß dies angesichts der kulturellen und sprachlichen Randbedingungen ein in jeder Weise angemessener Zugang ist. Frau Hohn stützt sich auf ein äußerst umfangreiches Quellenmaterial, das von der Auswertung japanischer Sekundärliteratur über Erschließung von Unterlagen des Bauministeriums, von Forschungsinstitutionen und zahlreichen Bauämtern über unveröffentlichte interne Berichte und Gutachten bis hin zu zahllosen Gesprächen mit japanischen Experten und Planungsfachleuten auf allen administrativen Ebenen reichte.
Um die gewaltige Materialfülle zu strukturieren und zu bewältigen, entschied sich Frau Hohn, neben der erwähnten Darstellung der Fallbeispiele, die etwa die Hälfte der Arbeit einnehmen, in zwei weiteren Kapiteln die Voraussetzungen zum Verständnis dieser Fallbeispiele zu schaffen.
Im Kap. 2 gibt sie einen Abriß der modernen japanischen Stadtplanungsgeschichte von der Meiji Restauration 1868 bis in die jüngsten Entwicklungen seit der Reform des Stadtplanungs- und Baunormengesetzes im Jahr 1992. Entscheidende Wendepunkte und damit auch Gliederungskriterien für die einzelnen Kapitel waren das Große Kantô-Erdbeben von 1923, der Einfluß der Kriegszeit 1931 bis 1945, der Wiederaufbau bis zum Ende der 60er Jahre, der Erlaß des zweiten Stadtplanungsgesetzes von 1968 und schließlich die Reform des Stadtplanungs- und Baunormengesetzes von 1992. In diesem Kapitel ist es Frau Hohn gelungen, wichtige stadtplanerische Erlasse und Gesetze nicht nur in ihren Folgewirkungen zu beschreiben, sondern auch ihren jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und stadtgeschichtlichen Kontext zu verdeutlichen. Zwei aktuelle Probleme schätzt Frau Hohn als besonders lösungsbedürftig ein: das sind zum einen die funktionale Krise der Innenstädte in den Regionalzentren und zum anderen die großräumigen Holzhausgürtel in den Metropolen. Neben den kulturraumspezifischen Besonderheiten rückt Frau Hohn auch immer wieder die Bedeutung des Katastrophenschutzes (katastrophengeschützte Lebensräume, Fluchtstraßen, Katastrophenschutzbasen) für die Stadtplanung in das Blickfeld.
Die rechtlichen Grundlagen der Stadterneuerung und des Stadtumbaus (Kap. 3) im Detail darzustellen, war ein schwieriges Unterfangen, weil z. B. schon das Baunormengesetz von 1950 und seine spätere Reformen, die Stadtplanungsgesetze von 1968 bzw. das Stadtplanungs- und Baunormengesetz von 1992 auf den ersten Blick eine verwirrende Vielfalt der unterschiedlichen Gesetze und Kompetenzen darstellen. Frau Hohn gelingt es, eine sehr klare und einsichtige Gliederung zu schaffen (Flächennutzungsplanung, Distriktplanung, Stadterneuerungsgesetz, Bodenumlegungsgesetz, Gesetze und Programme zur Wohn- und Wohnumfeldverbesserung usw.). Auch in diesem Zusammenhang muß die Fülle der von ihr bearbeiteten Karten, Pläne, Diagramme und Tabellen besonders hervorgehoben werden.
Insgesamt dienen rd. 350 Karten, Pläne und Abbildungen der Verdeutlichung und Illustration der jeweiligen verbalen Aussagen und Erklärungen.
Es ist wohl keine Frage, daß mit dieser Arbeit eine erste umfassende Darstellung und Analyse wesentlicher Bereiche japanischer Stadtplanung und -entwicklung außerhalb von Japan vorliegt. Insofern stellt die Habilitationsschrift sicher eine bahnbrechende Leistung dar. Nicht nur der multiperspektivische Ansatz, sondern auch ihr ausgewogenes und kenntnisreiches Urteil, ihre immer wieder eingestreuten Vergleiche mit der westeuropäischen und nordamerikanischen urbanen Situation und der häufige Rückbezug der Einzelbeispiele auf wichtige Ausgangsfragestellungen belegen eindrucksvoll, daß ihre "kritisch-hermeneutische Entdeckungsreise in die Welt der japanischen Stadt und Stadtplanung" vollauf gelungen ist.
Autor: Wolfgang Taubmann

Quelle: Geographische Zeitschrift, 90. Jahrgang, 2002, Heft 2, Seite 124-126