Detlef Müller-Mahn: Fellachendörfer: Sozialgeographischer Wandel im ländlichen Ägypten. Stuttgart 2001 (Erdkundliches Wissen 127). 302 S.

 "Der zusammengesetzte Leitbegriff ‚Fellachen-Dörfer' im Titel verweist auf die Dualität des Gegenstandes dieses Buches". Dabei geht es "nicht um ‚räumliche Prozesse', sondern im Mittelpunkt stehen gesellschaftliche Prozesse, deren Raumbezug durch das Handeln lokaler Akteure immer wieder neu hergestellt wird" - kurz, aber treffend stecken der erste und der letzte Satz (S. VII und S. 258) der Habilitationsschrift von Detlef Müller-Mahn den Rahmen für das ab, was auf den dazwischen liegenden 250 Seiten entwickelt wird. Fellachen-Dörfer (ländliche, agrarisch geprägte Siedlungen) werden als ein sozial-räumlicher Typus interpretiert, dessen Wandel diesem Verständnis entsprechend nur analysierbar ist, wenn "Handeln" gegenüber "Raumstrukturen" der Vorrang eingeräumt wird. In einer empirisch aufwändig angelegten und äußerst detailreichen Studie gelingt es Müller-Mahn auf diese Weise, dem Leser ein tief greifendes Verständnis auch der physiognomischen Veränderungen im Siedlungsbild und in der Kulturlandschaft des ländlichen Ägyptens zu vermitteln.
 Ausgangspunkt für die Arbeit ist eine vom Autor diagnostizierte "äußerst kritische Umbruch- und Krisensituation" an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert (S. 7). "Bevölkerungswachstum", "Siedlungsexpansion" und "Kulturlandschaftszerstörung" sind die augenfälligsten Merkmale des daraus resultierenden umfassenden ökonomischen und sozialen Wandels, der die Bewohner ländlicher Regionen unter enormen "Anpassungs- und Veränderungsdruck" (S. 8) setzt. Die ägyptische Bevölkerung hat sich seit 1950 mehr als verdreifacht; entsprechend sank die pro Kopf zur Verfügung stehende Bewässerungsfläche um zwei Drittel. Der Verfall des Ölpreises und die damit verbundene Einschränkung staatlicher Handlungsmöglichkeiten machten die strukturellen Probleme offensichtlich, und ein Umschuldungsabkommen mit dem IWF erzwang in den 90er Jahren eine Reformpolitik, die "zum Teil völlig neue Rahmenbedingungen für die Bauern" (S. 62) schuf. Deregulierungsmaßnahmen im Agrarsektor bis hin zur partiellen Aufhebung der Nasserschen Reformen durchziehen als Einflußfaktor die gesamte Arbeit und zählen zu den Rahmenbedingungen der Untersuchung, auch wenn die Folgen zur Zeit der Feldarbeit erst in Ansätzen erkennbar waren.
 Müller-Mahn untersucht die konkreten Auswirkungen dieses Umbruchs, indem er Dörfer als "Bühnen für das Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Raum" (S. 6) versteht, wobei - um Mißverständnissen vorzubeugen - erläuternd hinzugefügt werden muß: Eben nicht als statische "Kulissen", sondern wirklich als "Bühnen", die zwar auf vielfältige Weise handlungsleitend wirken, aber auch aktiv von den Akteuren genutzt und verändert werden. "Was tun die Dorfbewohner?" (S. 9) ist die Leitfrage für den empirischen Teil angesichts der zunehmenden Irrelevanz bestehender Überlebensund Erwerbssicherungsstrategien, aber auch der Infragestellung traditioneller Elemente des dörflichen Sozialsystems. Dem Leser werden sieben Dörfer aus zwei Gouvernoraten - eines in Oberägypten, 280 km südlich von Kairo und eines im Nildelta - anhand ausgewählter Indikatoren kurz vorgestellt, von denen anschließend drei als Fallstudien für eine detailliertere Untersuchung dienen. Einzelbiographien und konkrete Handlungsstrategien sind in diesem Hauptteil der Arbeit eine Art Prisma, durch das die Auswirkungen der veränderten nationalen und globalen Rahmenbedingungen im ländlichen Raum sichtbar gemacht werden sollen. Mag die Gliederung des Buches mit Kapiteln wie "Der Wandel des Handlungsrahmens auf der Makroebene" zum einen und einzelnen "Fallstudien" mit Unterabschnitten wie "Lebenswelten" und "lokale Handlungsstrategien" zum anderen auch den Eindruck erwecken, als würde hier ein alter Dualismus zwischen "Akteuren" und "materiellen Strukturen" reproduziert, so ist es doch gerade das Anliegen des ersten Teils der Arbeit, dies zu vermeiden. Und noch ein zweiter klassischer Dualismus soll überwunden werden: Der Gegensatz zwischen "erklären" und "verstehen", zwischen "objektiver" und "subjektiver" Herangehensweise, zwischen "Handlung" und "Struktur" bzw. "Makro-" und "Mikroebene" (die Begriffspaare seien hier ebenso unverbunden aneinander gereiht, wie sie in der Arbeit selbst verwendet werden, eine klarere Differenzierung und vergleichende Gegenübergestellung hätte man sich an mancher Stelle gewünscht). Der erste Dualismus wird in enger Anlehnung an die strukturationstheoretische Einordnung von Raum aufgelöst, wobei unklar bleibt, worin die festgestellten Unterschiede zu Giddens und Werlen "hinsichtlich der funktionalen Einordnung des Raumes" (S. 23) tatsächlich bestehen. Der zweite wird in Orientierung an Schwemmer als ein Spannungsfeld gesehen, das für den Erkenntnisprozeß durchaus fruchtbar sein kann, wenn Perspektivenwechsel als systematischer Bestandteil des Forschungsprozesses integriert werden. Entsprechend breit mußte dann auch das verwendete methodische Instrumentarium sein: Von der historisch-vergleichenden Karteninterpretation und der Auswertung von Archivmaterialien über eigene Kartierungen bis hin zu einer standardisierten Befragung (750 Haushalte) und zu qualitativen Interviews - letztere bilden zweifellos den Kern der Arbeit - ist die empirische Herangehensweise in der Tat "mehrdimensional" (S. 28), was immer wieder interessante Perspektivenwechsel ermöglicht und sich insgesamt äußerst positiv bemerkbar macht.
 Über den "Originalitätswert" der theoretischen Konzeption kann man sicherlich geteilter Ansicht sein. Dies gilt sowohl für den "Versuch einer theoretischen Skizze" in Form eines "sozialgeographischen Modells raumbezogenen Handelns" (S. 21f) als auch für den insgesamt sehr weit gespannten Bogen, der so unterschiedliche Autoren wie Giddens, Bourdieu, Habermas, Schwemmer und Geertz zu verknüpfen sucht. Entscheidender scheint mir jedoch etwas anderes zu sein: Es ist keine einengende "Theorie", die hier an den Anfang gestellt wird und den Interpretationsrahmen für das erhobene Material vorschreibt, sondern ein "analytisches Instrumentarium", welches gewährleistet, daß wirklich die eigene Empirie zugrunde gelegt wird - Müller-Mahn nimmt die Akteure mit ihren eigenen Handlungsinterpretationen ernst, und verzichtet erfreulicherweise auf orientalisierende Erklärungsmuster. Die gegebene Breite des Themas mit dem konzeptionellen Anspruch "in die Tiefe zu gehen" zu verbinden ist nur in Form der bereits erwähnten Fallstudien möglich, deren Präsentation sehr überzeugend gelingt. Den ausgewählten drei Dörfern, die auf mehr als 150 Seiten ausführlich dargestellt werden, nähert sich Müller-Mahn in drei Schritten, in denen sich eine zunehmende Fokussierung von der Makro- zur Mikroebene widerspiegelt. Verbunden damit ist der Übergang von der Beschreibung allgemeiner Rahmenbedingungen (Kap. 2) über die Analyse anhand von vorgegebenen Entwicklungsindikatoren (Kap. 3) zur Interpretation von "lokal produziertem Material" (Kap. 4 bis 6). Kapitel 2 gibt einen historischen Überblick zu agrarstrukturellen Entwicklungen in Ägypten und endet mit der gegenwärtigen Krise. Kapitel 3 analysiert die sieben in der quantitativen Befragung enthaltenen Siedlungen als Einheiten, indem Merkmale wie "Infrastrukturausstattung", "Stadtorientierung" oder "Pachtverhältnisse" vergleichend gegenübergestellt werden, während die Kapitel 4 bis 6 jeweils ein einzelnes ausgewähltes Dorf zum Thema haben. Darin wiederholt sich in abgewandelter Form eine schrittweise Fokussierung, hier allerdings vom "Dorf als Ganzes" über "unterschiedliche Lebenswelten" hin zu "konkreten Handlungsstrategien", wobei ein vierter Abschnitt jeweils explizit darauf abzielt, diese drei Bereiche noch einmal zusammenfassend aufeinander zu beziehen.
 Die Stärke des qualitativen Teils liegt darin, daß es Müller-Mahn gelingt, ein lebendiges Bild der lokalen Lebenswelten zu vermitteln und so beim Leser die Voraussetzung für das verstehende Nachvollziehen fremdkultureller Handlungslogiken zu schaffen. Die problematische Situation der Ankunft des ausländischen Forschers im Dorf Sbikha, der Streit auf dem Hochzeitszug durch das Dorf Zuhra und die Familienfehde in Sibrbay ebenso wie die Schilderungen der Schwierigkeiten des Arbeitsmigranten Khalid, des Lehmziegelproduzenten Macz cAbd al-Macz oder des Salzgräbers Siliman Mushin al-Massaida - sie alle sind mehr als die "netten Geschichten aus dem Orient", für die man sie bei flüchtigem Lesen vielleicht halten könnte. Hier wird empirisches Material in einer Weise präsentiert, die gewährleistet, daß jede folgende theoretische Reflexion auch an ihren Ausgangspunkten verankert bleibt - die "abnehmende Integration des ländlichen Raumes in staatliche Strukturen", von der später die Rede ist, bleibt für den Leser immer auch das Problem des zitierten Gelegenheits-Ziegelbrenners mit behördlicher Kontrolle und Korruption. Darüber hinaus ist an diesem Teil nicht zuletzt Müller-Mahns besondere Sensibilität für die Verlierer der Umbruchssituation sympathisch. Zugleich sind diese Schilderungen auch so gehalten, daß die über die unmittelbaren lokalen Kontexte hinausreichenden Entwicklungen, Fragen und Probleme klar durchscheinen: die gestiegene räumliche und soziale Mobilität und die damit verbundene "Delokalisierung" (S. 237) von Handlungsstrategien, die Bedeutung von Landbesitz über die rein ökonomische Funktion der Erwerbssicherung hinaus, die Veränderung der Struktur von Abhängigkeitsverhältnissen, die mit dem Bevölkerungs- und Siedlungsdruck verbundene Übernutzung der knappen Ressourcen, die sich wandelnde Wechselbeziehung zwischen tribaler bzw. genealogischer Sozialstruktur, ökonomischem Status und Nachbarschaft, die Verschmelzung autochthoner Traditionen mit Fremdeinflüssen, der neue Warencharakter des Bodens und die Bodenspekulation, "Deagrarisierung" (S. 245), Verlust einer sozialen und räumlichen Mitte der Siedlungen, wachsende Besitzfragmentierung und die damit verbundene Notwendigkeit, auf neue Kooperationsformen zurückzugreifen und vieles mehr. Der einzige Aspekt, über den man beim Lesen dieses insgesamt sehr gelungenen Hauptteils der Arbeit hin und wieder stolpert, ist die wiederholte und manchmal etwas banal wirkende Betonung der gegenseitigen Abhängigkeit von räumlichen und sozialen Strukturen ("Dabei wird von zwei Hypothesen ausgegangen: (1) ... Raumstrukturen lassen sich insofern als Produkt früheren Handelns ... interpretieren." - S. 180): Gibt es überhaupt räumliche Strukturen, die nicht in einer wie auch immer gearteten Wechselbeziehung zu sozialen Verhältnissen stehen und trotzdem Thema einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung sein könnten? Selbstverständlich können nicht alle diese Aspekte detailliert ausgeführt und eingeordnet werden; insofern wird hier weit mehr Interessantes angerissen, als für die Hauptthesen des Schlußteils nötig gewesen wäre, was ein umso lebendigeres Bild der dörflichen Lebenswelten entstehen läßt. Zusammenfassend wird dann eine "übergreifende, dem Wandel zugrunde liegende Richtung" (S. 251) in Form von vier Prozessen herausgearbeitet, die Müller- Mahn als die wesentlichen Steuerungsfaktoren ansieht:
 1. Die Auflösung der auf der Grundlage traditioneller Sozialstrukturen entstandenen sozial-räumlichen Einheiten und die Entstehung neuer, ökonomisch bestimmter Raumstrukturen.
 2. Die Urbanisierung als räumlicher und sozialer Wandel, der zusammen mit den bei einigen Bevölkerungsgruppen gestiegenen Einkommen eine Ausdifferenzierung neuer Funktionalräume bewirkt.
 3. Der Legitimitätsverlust der staatlichen Ordnung, deren Vorgaben immer häufiger mit den wenigen verbliebenen Strategien der Existenzsicherung der ärmsten Bevölkerungsschichten konfligieren.
 4. Zunehmende Marginalisierung und Massenarmut, die unter anderem die Persistenz oder sogar Zunahme subsistenzorientierter Agrarproduktion bedingen.
 So schlüssig die Zusammenfassung auch ist: Hier hätte man sich noch mehr Mut des Autors gewünscht, diesen Teil ausführlicher zu gestalten und die immer wieder angerissenen Grundsatzfragen - und sei es nur in Form von "weiterführenden Hypothesen" - zu diskutieren: Was bedeutet der Wandel von "Verwandtschaft" zur "Nachbarschaft" und deren Verbindung mit "ökonomischer Position" als Modus der Vergemeinschaftung für den ländlichen Raum? Führt die Oppositionshaltung gegenüber dem Staat zusammen mit der gestiegenen Bedeutung der ökonomischen Position auch bei den Verlierern des Wandels zu einem mobilisierenden Gruppenbewußtsein? Oder sind andere neue Formen der Integration angesichts der mehrfach angesprochenen sozialen Desintegration denkbar bzw. lassen sie sich vielleicht schon in Ansätzen erkennen? Es ist zu hoffen, daß Müller-Mahn einige dieser Themen noch einmal aufgreift und sie im Kontext entwicklungstheoretischer Fragen oder der allgemeinen Problematik sozial-räumlichen Wandels weiterführend behandelt - die Anknüpfungspunkte dafür in der vorliegenden Arbeit sind ebenso vielseitig wie viel versprechend.
Autor: Peter Lindner  

Quelle: Geographische Zeitschrift, 90. Jahrgang, 2002, Heft 3 u. 4, Seite 236-239