Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer (Hg.): Politische Geographie. Handlungsorientierte Ansätze und Critical Geopolitics. Heidelberg 2001 (Heidelberger Geographische Arbeiten 112). 227 S.
"Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Ansichten über die Dinge." - Was der griechische Philosoph Epiktet vor fast 2000 Jahren äußerte, kann heute auch als Paraphrase über einen Generalverdacht verstanden werden, dem sich eine Wissenschaft aussetzt, die sich selbst als "neu" anpreist: weniger über neue Entdeckungen in der Realität berichten als vielmehr neue Ansichten verbreiten zu wollen. Auch der vorliegende Band, dessen Einleitung (P. Reuber/G. Wolkersdorfer) "die neuen Geographien des Politischen und die neue Politische Geographie" im Titel führt, muß sich vor diesem Hintergrund die Frage stellen lassen, was es denn so Neues darin zu finden gibt.
Das Buch gibt überarbeitete Vorträge und Workshopbeiträge wieder, die von der Tagung "Handlungsorientierte Politische Geographie und Critical Geopolitics" vom 5.-7. Mai 2000 in Heidelberg stammen. Die Aufteilung in Vorträge und Workshoppräsentationen kann weitgehend mit einer Untergliederung in theoretische und empirische Beiträge in Deckung gebracht werden. Den Schwerpunkt auf der empirischen Ebene bilden Aufsätze über Raumbegriffe in politischen Diskursen (M. Redepenning, F. Meyer zu Schwabedissen) und zur Aneignung städtischer Teilräume durch unterschiedliche soziale Gruppen (A. Strüver, U. Best/ D. Gebhardt, B. Belina, G. Helms). So interessant jedoch diese Beiträge auch überwiegend sind, so wenig erschließt sich aus ihnen, warum es sich um Politische, gar um neue Politische Geographie handeln soll. Verwandte Themen konnten bisher - sofern sie in der Geographie diskutiert wurden - problemlos z. B. mit dem Etikett der "Sozialgeographie" versehen werden. Auch daß nun "raumbezogene Identitäten", NGOs oder Bürgerinitiativen als Themen der Politischen Geographie entdeckt werden (Einleitung S. 10-11), ist angesichts der einschlägigen Arbeiten seit spätestens den 1980er Jahren wohl weniger der Ausdruck einer Unkenntnis dieser Forschungen als vielmehr Resultat einer Umkategorisierung: Neu sind diese Themen der Politischen Geographie nur dann, wenn man sie unter dem Aspekt der Neu-Zuordnung zu einer Subdisziplin betrachtet und die vormaligen "sozialen" in "politische" Phänomene umdefiniert. Folgt man diesen Bemühungen nicht, läßt sich sowohl anhand der in diesem Band versammelten Aufsätze als auch mittels der dortigen Verweise auf andere Forschungen nur höchst eingeschränkt behaupten, es gäbe wichtige neue Phänomene, die eine Wiederbelebung oder gar Neukonzeption der Politischen Geographie erforderlich machten. Nicht zuletzt ist es für die Empirie üblicherweise auch nebensächlich, mit welchem Etikett sie beklebt wird. Die Relevanz einer "neuen Politischen Geographie" ist damit notwendigerweise auf einer anderen, konzeptionellen Ebene zu suchen, und zwar über die Frage, inwieweit sie mit einer (neuen) außergeographischen Weltsicht korreliert (paradigmatisch hierfür bereits der Titel des Beitrags von J. Lossau: "Anderes Denken in der Politischen Geographie"), welche Realitätsaspekte nun verstärkt ins Blickfeld rücken oder gar neu entdeckt werden und inwieweit diese Wissenschaft auch mit einer bestimmten Form von Politik koinzidiert. Es widerspräche selbstverständlich dem Typus eines Tagungsbandes, einen roten Faden dergestalt herausfinden zu wollen, daß alle Beiträge als Bestandteil einer übergreifenden Argumentation, quasi als Kapitel eines einzelnen Buches begriffen werden. Dennoch scheint der überwiegenden Mehrzahl der aus den Vorträgen entwickelten Aufsätze ein in Abstufungen recht ähnliches Wirklichkeitsverständnis zugrunde zu liegen, das dann mit Vorstellungen einer neuen Politischen Geographie verbunden wird. Deshalb soll im folgenden versucht werden, sich dieser neuen Ontologie des Politischen bzw. der neuen Konzeption Politischer Geographie über eine übergreifende Betrachtung einzelner Artikel zu nähern. Ein solches Vorhaben stößt zunächst auf die überraschende Schwierigkeit, kaum Begriffe aus dem herkömmlichen semantischen Feld des Politischen anzutreffen. Tatsächlich kommen Begriffe wie Politik, Staat oder Macht zumeist nur in zarter Giddens'scher Metaphorik und solche wie politische Interessenvertretung, Herrschaft o. ä. gleich gar nicht vor, während es von "Konstruktionen" und "Diskursen" nur so wimmelt. Deshalb soll die nähere Diskussion mit einem Druckfehler beginnen. So kontrastiert J. Ossenbrügge in seinem Beitrag "Modernisierung der Belanglosigkeit oder Neubeginn einer kritischen Politischen Geographie?" eigene Überlegungen zu einer neuen Politischen Geographie mit der Position Boeslers, der unter dem Kürzel "raumwirksame Staatsfähigkeit" [tatsächlich: Staatstätigkeit!] die Hinwendung zu praktischen und politikberatenden Arbeitsfeldern initiiert habe (S. 177). Dieser Fehler - wohl einem übereifrigen Korrekturprogramm geschuldet - markiert sehr gut den roten Faden, der sich als ontologische Grundannahme durch die Mehrzahl der überwiegend konzeptionellen Beiträge des vorliegenden Bandes zieht: Die Boeslersche Beschreibung (oder vielmehr Utopie) der parlamentarischen Demokratie, die durch Transparenz und zugleich Formalisierung, durch allseitige Zugänglichkeit und zugleich strikte Gliederung nach Entscheidungs- und Einspruchsebenen ihre Legitimierung erhält und so Politik auch als Gegenstand einer Politischen Geographie erst real werden läßt, ist offensichtlich obsolet geworden. Zumindest ist hiervon, d. h. vom Staat, seinen formalen Gliederungen und deren "raumwirksamer Tätigkeit", in der "neuen Politischen Geographie" nicht die Rede. Das Buch versucht, demgegenüber zwei alternative Aspekte des Politischen zu etablieren - sowohl als Realitätswahrnehmung als auch als Objekt wissenschaftlichen Interesses. Der eine Aspekt kann als Korrekturform der parlamentarischen Demokratie bezeichnet werden: Hierunter sind etwa die im Beitrag von H. Gebhardt thematisierten Bürgerinitiativen zu verstehen, aber auch die auf internationaler Ebene agierenden Nicht-Regierungs-Organisationen (vgl. den Beitrag von D. Soyez). Die Korrekturfunktion besteht darin, daß diese Gruppen nicht auf dem herkömmlichen formalen Weg der parlamentarischen Entscheidungsfindung (zumeist durch Parteien) Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen, sondern durch mehr oder weniger spektakuläre Formen der Lobby-Arbeit. Diese für den Blickwinkel der Politischen Geographie offensichtlich relativ neuen Formen politischen Handelns erfordern - so die Argumentation - auch eine neue Perspektive, soll nicht all das unberücksichtigt bleiben, was nicht in die Raster traditioneller (oder was dafür gehalten wird) Politikbeobachtung fällt. Einen Schritt weiter als dieser Blick auf die Kontaktfelder zwischen staatlichen Organen und bürgergesellschaftlichen Organisationen geht ein zweiter, in dem vorliegenden Band auch dominierender Ansatz: derjenige der "critical geopolitics". Dabei ist die englisch-sprachige Bezeichnung nicht nur ein Hinweis auf die Herkunft aus der US-amerikanischen Diskussion im Umfeld kultur- und gesellschaftskritischer pressure groups, sondern in seiner Uneindeutigkeit geradezu paradigmatisch für die damit verbundenen Inhalte. Diese Uneindeutigkeit findet sich auf drei Ebenen: Zum einen liegt sie im Begriff der "politics" selbst, der im englischen Sprachgebrauch zwischen allen möglichen Handlungen, die mit dem Erwerb oder der Anwendung von Macht einhergehen, einerseits und persönlichen politischen Überzeugungen andererseits changiert. So wird in der Einleitung des Bandes ebenso wie in den Beiträgen von J. Lossau (s. o.) und G. Wolkersdorfer ("Politische Geographie und Geopolitik") der Unterschied zwischen "critical geopolitics" und der "klassischen" Geopolitik eines Haushofer oder eines Huntington sowohl in der Art des Denkens (hie: Postkolonialismus/- feminismus bzw. Dekonstruktivismus, da: binäres, reduktionistisches etc. Denken) als auch in der dadurch munitionierten bzw. darauf aufbauenden Politik gesehen. Zum anderen ermöglicht dieser Zugang auch die Übernahme der aus einem bestimmten Spektrum der anglo-amerikanischen Sozialwissenschaften bekannten Virtuosität beim Wechsel zwischen Realbegriffen und Theoriebegriffen (im vorliegenden Band in gewissem Maße paradoxerweise vertreten von dem finnischen Geographen A. Paasi, "A borderless world"). Dieser Stil des permanenten Wortspiels und der hohen Metapherndichte macht die Unterscheidung zwischen richtig und falsch in zunehmender Weise zu einer Geschmacks- oder Gesinnungs-, nicht mehr zu einer innerwissenschaftlich rational zu verhandelnden Frage. Zum dritten liegt eine gewisse Uneindeutigkeit der critical geopolitics auch in ihrer Distanz zum - im Deutschen gleichfalls mit "Politik" übersetzten - Begriff der "policy", in dessen Zentrum planbzw. programmorientiertes Handeln steht. Dies und die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf die sprachliche Fixierung raumbezogener Realitätswahrnehmung und ein damit korrespondierendes Handeln reduziert den Handlungsbegriff sehr rigide auf die Aktivitäten von Individuen. Insofern ist es auch nur konsequent, daß der vorliegende Band bereits im Untertitel neben den "critical geopolitics" auch handlungsorientierte Ansätze proklamiert, ja de facto beide Ansätze ineinander überführt. Dennoch stellt sich bereits an dieser Stelle die Frage, ob mit dem durch diesen Zugang notwendigen Verzicht auf die Analyse etwa von staatlichem Handeln als programmgestütztem Organisationshandeln nicht ein wichtiges Element von Politik ausgeblendet wird. Als Beispiel für dieses Problem kann der Beitrag von P. Reuber ("Möglichkeiten und Grenzen einer handlungsorientierten Politischen Geographie") betrachtet werden, wenn er unter Bezug auf den Ansatz der "critical geopolitics" die Frage behandelt, warum Politiker aus Eigennutz und nicht aus Gemeinnutz handeln, und dies auf die "subjektiv verzerrten Konstruktionen" "strategischer Raumbilder" (S. 86-88) der Akteure zurückführt. Wieder scheint Politik als Beobachtungsobjekt einer "neuen Politischen Geographie" im wesentlichen eine Frage des falschen oder richtigen Denkens individueller Akteure und der daraus folgenden Handlungen zu sein; Entscheidungsprozesse in dafür vorgesehenen Institutionen spielen hingegen nur eine untergeordnete oder gleich gar keine Rolle. Aus dieser grundsätzlichen Perspektive und nicht nur aufgrund ihres ideengeschichtlichen Herkommens kann es daher nicht weiter verwundern, die "neue Politische Geographie" mit dem hohen Duktus der Selbstbeschau aus dem Arsenal des postmodern- feministischen NewSpeak hantieren zu erleben. Ein besonders markantes Beispiel hierfür ist die wiederholte Betonung der "neuen Sensibilität", welche die "neue Politische Geographie" gegenüber diesen oder jenen Aspekten der Realität entwickelt habe, was allein in der Einleitung fünfmal hervorgehoben wird (S. 3-4). Welchen Sinn und welche Relevanz die wissenschaftliche Beschäftigung mit den einzelnen Themen hat, scheint demgegenüber deutlich nachrangig zu sein. Die Übernahme der skizzierten Elemente der "critical geopolitics" fällt in den einzelnen Beiträgen unterschiedlich stark aus; völlig frei von ihnen argumentieren der wissenschaftshistorische Beitrag von U. Wardenga über die Politische Geographie zwischen ca. 1920 und 1980 und der Aufsatz von Th. Krings und B. Müller über Politische Ökologie, der auf einem im Vergleich mit anderen Beiträgen seltsam altmodisch anmutenden Politikverständnis gründet, wird doch ein Schwerpunkt der Betrachtung auf Institutionen und - übergreifend - gesellschaftliche Strukturen gelegt. Nicht zuletzt in Relation zu letzterem Beitrag sind die auf der Perspektive der "critical geopolitics" gründenden Aufsätze tatsächlich "neu", weisen sie doch einen von den herkömmlichen Politikwissenschaften stark abweichenden Realitätszugang auf. Ob dies wissenschaftlich wie praktisch-politisch sinnvoll ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Statt dessen interessiert die Frage nach der Korrespondenz dieser Ansätze mit der außerwissenschaftlichen Realität, d. h. inwieweit die Verschiebung der Realitätswahrnehmung auch einer veränderten Realität zuzuschreiben ist. Tatsächlich scheint es Entwicklungen zu geben, die dem Beobachtungsraster der "critical geopolitics" sehr gut entsprechen. Zunächst ist hier die aktuelle Häufung von politischen (Bestechungsusw.) Skandalen zu nennen. Diese können als Hinweise darauf verstanden werden, daß die - etwa in Reubers Beitrag thematisierte - Dichotomie von Eigennutz und Gemeinnutz insofern existiert, als programmorientiertes und institutionengebundenes Handeln, das ja weder dem einen noch dem anderen "Nutz"-Typen zugeordnet werden kann, im Verschwinden begriffen ist. Ob dem tatsächlich so ist, kann durch die beschriebene Beobachtungsweise aber nicht entschieden werden. Wichtiger dürfte auch ein zweiter Punkt sein. So scheinen sich - wie in der regionalplanerischen Diskussion bereits bemerkt - grundlegende politische Veränderungen zu vollziehen, die der Realitätsauffassung der "critical geopolitics" zunehmend näherkommen. Hierbei handelt es sich um die fortschreitende Ablösung formaler, parlamentarisch verankerter und in ihren Entscheidungsstrukturen transparent angelegter Gremien (quasi der Boesler'schen "Politik") durch informelle, sich selbst kooptierende und kontrollierende Arbeitskreise, Runder Tische usw., in die vormals parlamentarisch getroffene Entscheidungen ausgelagert werden. Insofern kann die Übernahme der "critical geopolitics" in der deutschsprachigen Geographie als ein Element tatsächlicher politischer Veränderungen verstanden werden - ebenso wie die Entstehung dieses Ansatzes auch als genuines Produkt des stark personenzentrierten amerikanischen Politikmodells mit seiner immensen und steigenden Bedeutung von Lobbies, Komitees, Kampagnen usw. als Bestandteilen politischer Entscheidungsfindung anzusehen ist. Unabhängig davon, wie man diese gesellschaftlichen Entwicklungen quantitativ wie qualitativ einschätzt, stellt sich jedoch die dringende Frage, welchen Zweck die neue Politische Geographie der critical geopolitics mit ihrer affirmativen Anbindung an bestimmte politische Strömungen verfolgt. Um wissenschaftliche Erkenntnisse kann es einer Subdisziplin offensichtlich nicht vorrangig gehen, wenn sie sich die Programmatik eines N. Johnston ("The goal of academic work must be emancipation, leading to social change"; zitiert in der Einleitung, S. 12) zu eigen macht. Was bedeutet dies dann aber wissenschaftspolitisch? Will man die Politische Geographie erneuern, um endlich - oder auch: endlich wieder - auf der politischen Gewinnerseite zu stehen? Oder geht es darum, wenn man schon in einer Minderheitenposition ist, so doch wenigstens zu den moralischen Siegern zu zählen, quasi einer "Wissenschaft der Herzen" anzugehören? Diese Fragen, die sich an die "critical geopolitics" stellen, finden in dem vorliegenden Band keine Beantwortung. Gerade derlei sollte man von einer "kritischen" Wissenschaft jedoch erwarten - zumindest wenn man Kritik nicht als Attitüde, sondern als wissenschaftliche Aktivität versteht.
Autor: Wolfgang Aschauer