Cemile Nil Uzun: Gentrification in Istanbul: a diagnostic study. Utrecht 2001 (Nederlandse Geografische Studies 285). 209 S.
Art und Umfang der Gentrification in Metropolen von Schwellenländern sind bislang kaum untersucht worden. UZUN will mit ihrer Dissertation dazu beitragen, am Beispiel von Istanbul eine Forschungslücke zu schließen.
Die Arbeit ist in neun Kapitel untergliedert. Nach der üblichen Einleitung werden - ein wenig isoliert von der Gesamtaussage - die im 20. Jahrhundert diskutierten Stadtentwicklungstheorien lehrbuchartig vorgestellt. Im dritten Kapitel wird auf Theorie und Inhalt des zentralen Begriffs "Gentrification" näher eingegangen, wobei die wegweisenden Aussagen von FRIEDRICHS (u.a. 1996) keine Berücksichtigung gefunden haben. Nach einem kurzen Abriss der Stadtentwicklungsgeschichte in der Türkei seit Gründung der Republik (1923) zeichnet die Autorin anschließend den Wandel des Stadtkörpers von Istanbul seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach. Knapp die zweite Hälfte der Arbeit widmet sich der Methode (Kap. 6) und den Ergebnissen (Kap. 7-9) der Feldstudie, die in den beiden - durch vorangegangene Signifikanztests auf Basis der Volkszählungsdaten des Jahres 1990 ausgewählten - Istanbuler Wohnquartieren Cihangir (im europäischen Stadtteil Beyog?lu) und Kuzguncuk (im anatolischen Stadtteil Üsküdar) unternommen wurde. Ferner kam eine Vergleichsanalyse zum Tragen, die jeweils ein benachbartes Quartier (Çukurcuma im Falle von Cihangir und I?cadiye für Kuzguncuk) zum Gegenstand hatte. Neben zahlreichen Expertenbefragungen (Immobilienmakler, gewählte Vorstände der Quartiere, Stadtplaner, Mitglieder von NGOs) sind insgesamt knapp 200 standardisierte Interviews mit Haushaltsvorständen durchgeführt worden. Über die wesentlichen sozio-ökonomischen Daten hinaus wurden dabei auch Aspekte zum "Lifestyle" (Medienkonsum, Einkaufs- und Freizeitverhalten) abgefragt.
Die Ergebnisse, die im wesentlichen in Tabellenform präsentiert werden, enthalten - trotz einiger zu kritisierender methodischer Mängel bei der Datenerhebung - eine Vielzahl interessanter und neuer Erkenntnisse zur jüngeren baulichen und sozialen Aufwertung von zwei architektonisch reizvollen, im wesentlichen gründerzeitlich geprägten, innenstadtnahen Istanbuler Wohnvierteln. Ähnlich wie in den gut untersuchten Beispielen aus Industrieländern sind die Gentrifier i. d. R. Personen mittleren Alters, mit (sehr) guter Bildung, die in Kernfamilien leben und einer qualifizierten Tätigkeit (als Selbstständige, Führungskräfte, Beamte oder Künstler) nachgehen. Sie sind biographisch eindeutig großstädtisch geprägt und haben ihren Wohnstandort primär nach Aspekten der Umweltqualität und nach der zentralen Lage im Stadtkörper gewählt. Obwohl zumeist erst in den 1990er Jahren und teilweise auch aus anderen Großstädten zugezogen, war bei den Migranten von Beginn an eine hohe Identifikation mit dem jeweiligen Wohnquartier gegeben. Das heute wieder ausgezeichnete Image der beiden "geadelten" mahalle, die als historisch und baugeschichtlich interessante Viertel gelten, hatte bei der Entscheidungsfindung ebenfalls einen hohen Stellenwert. Während die Lagevorteile des Quartiers in Cihangir - mit einem teilweise ausgezeichnetem Blick über den Bosporus - vor allem von Unternehmen (Baugesellschaften und Immobilienmaklern) als wirtschaftliches Potenzial erkannt wurde, waren es in Kuzguncuk namhafte Architekten und Künstler, die in Eigeninitiative die dort noch vorhandenen traditionellen Holzhäuser zu sanieren begannen.
Die empirisch erhobenen Daten verlieren jedoch an Gewicht, weil sie partout vor dem "modernen" theoretischen Erklärungshintergrund einer "Globalisierung" interpretiert werden. Dabei gelingt es der Autorin in keinem Abschnitt ihrer Dissertation, den Zusammenhang zwischen - dem von ihr nicht einmal eindeutig definierten Begriff - einer seit den 1980er Jahren zunehmenden Globalisierung Istanbuls und der zeitlich parallel verlaufenden Gentrification hinreichend zu begründen. Ein Verzicht auf diesen äußerst aufgestülpt wirkenden Ansatz hätte der empirisch angelegten Studie gut getan. Hingegen wäre es wünschenswert gewesen, wenn UZUN die handlungsorientierten Motive der Gentrifier noch deutlicher in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gerückt hätte. Handwerkliche Mängel bestehen u.a. darin, dass konkrete Aussagen darüber fehlen, in welchem "Sommer", die Datenerhebung stattfand, vermutlich handelt es sich um das Jahr 1999. Weshalb nur Wohnungs- bzw. Hauseigentümer und keine Mieter befragt wurden, obwohl letztere im Grunde auch Gentrifier sein können, bleibt ebenfalls unbeantwortet. Bei der Recherche zum Ablauf des Gentrificationprozesses ist der Autorin zudem verborgen geblieben, dass es nicht zuletzt in Istanbul arbeitende Ausländer (vor allem deutsche und französische Lehrer und Wissenschaftler) waren, die bereits in den 1980er Jahren als Pioniere verstärkt in Cihangir eindrangen und somit dieses Quartier als Wohnstandort populär machten.
Autor: Harald Standl