Karina M. Pallagst: Raumordnung der Tschechischen Republik. Mittel- und Osteuropa vor dem Hintergrund europäischer Raumordnungsbestrebungen. Berlin 2000. 212 S.

Die politischen Umbrüche von 1989/1990 markieren in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der Entwicklung des europäischen Kontinents. Sie haben nicht nur Europas geopolitische Situation durch die Beendigung der bipolaren Konfrontation zwischen Ost und West grundlegend verändert, sondern auch eine neue Dynamik im europäischen Integrationsprozess hervorgerufen. Die Staaten Ost- und Mitteleuropas erleben seit der politischen "Wende" 1990 einen nahezu revolutionären Prozess des institutionellen Wandels, der alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens erfasst. Für die Tschechische Republik, EU-Kandidat der "ersten Reihe", hat diese Transformation die Trennung vom slowakischen Nachbarstaat, aber auch eine schnelle Annäherung an Deutschland und andere Staaten der EU mit sich gebracht.

Die strategische Umorientierung der Tschechischen Republik nach (West-) Europa muss als vielfache "Öffnung" des Landes verstanden werden. Der Anschluss an globale Märkte, die Einbindung in neue supranationale Institutionen (u. a. WTO, NATO, EU), die strukturelle und funktionale Verflechtung mit dem westeuropäischen Städtenetz sowie die "Europäisierung" nationaler Politik sind Merkmale eines Transformationsprozesses, dessen Auswirkungen erhebliche Chancen, aber auch einige Gefahren für die territoriale Entwicklung der Tschechischen Republik bringen können.
Nach der Delegitimierung und dem letztlichen Scheitern der zentralen Planwirtschaft muss die Raumordnung im postsozialistischen Kontext neu definiert werden. Sie wird zu einem Politikbereich, der zwischen internationalen, nationalen und lokalen Entwicklungsinteressen vermitteln muss, und spiegelt damit die politischen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen wider, mit denen die Tschechische Republik konfrontiert wird. Vor diesem Hintergrund identifiziert Karina Pallagst in ihrem informativen Buch verschiedene Aufgaben- und Problembereiche der im (Neu-)Aufbau begriffenen tschechischen Raumordnung. Behandelt werden u. a. Themen wie die Behebung erheblicher, durch die Schwerindustrie (und sozialistische Planwirtschaft) verursachter ökologischer Schäden, die Einführung einer strategischen marktorientierten Standortentwicklungspolitik und die Bewältigung der Probleme strukturell benachteiligter Regionen. Auffallend, so stellt die Autorin fest, ist der zunehmende Einfluss der EU auf die innere Entwicklung des Landes sowohl raumökonomisch als auch politisch. In diesem Zusammenhang bieten u. a. die europaweite Vernetzung der tschechischen Regionen, stringentere Umweltstandards und regionalpolitische Fördermaßnahmen der EU - wie etwa die von Brüssel unterstützte grenzüberschreitende Kooperation - potentielle Entwicklungschancen. Andererseits könnten sich deutliche West-Ost-Disparitäten innerhalb der Tschechischen Republik verschärfen, wobei Prag und die dynamischeren westlichen Regionen des Landes bei ausländischen Direktinvestitionen und in der wirtschaftlichen Entwicklung bevorzugt werden, während die durch Schwerindustrie gekennzeichneten östlichen Regionen in ihrer Entwicklung weiter zurückzufallen drohen.
Dieses Buch ist in erster Linie als Studie über Raumplanung im engeren Sinne konzipiert. Aus diesem Blickwinkel ist die Studie sehr gelungen und informativ. Sie stellt eine wichtige Ressource für diejenigen dar, die sich für Planungswissenschaften und insbesondere für die Veränderungen der Raumplanung in Mittel- und Osteuropa interessieren. Das Buch bietet auch eine gute Diskussion potentieller regionalpolitischer und raumordnerischer Konsequenzen der EU-Mitgliedschaft für die Tschechische Republik. Meines Erachtens hätte das Buch jedoch von einer intensiveren sozialwissenschaftlichen Einbettung des Themas, vor allem durch eine ausführlichere Behandlung des tschechischen Transformationsprozesses, profitiert. Denn Planung ist nicht nur ein rein technisch-administrativer Politikbereich, sondern ein politischer Prozess (und dabei eine besonders konfliktträchtige Form von "Governance"), der durch unterschiedliche Interessen und konkurrierende Entwicklungsleitbilder beeinflusst wird. Gerade in einer Zeit, da Planung und Raumordnung einen Paradigmenwechsel und gleichzeitig eine Legitimationskrise erfahren, wäre es interessant zu fragen, inwieweit Raumplanung im Transformationskontext der Tschechische Republik - und unter dem Einfluss neoliberaler Ideologie - als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. Eine weitere Frage, die beim Lesen dieses Buches aufkommt, bezieht sich auf die entwicklungspolitische Rolle der (von der EU sehr geschätzten) grenzübergreifenden Kooperation. Hier wird dokumentiert, wie die Tschechische Republik in zahlreiche mikro-, meso- und makroregionale Kooperationsprojekte eingebunden wird, deren Ziel es ist, eine nachhaltige und räumlich ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung zu definieren. Ist diese Kooperation eher eine politisch-strategische Angelegenheit, teilweise von der EU aufgesetzt, oder eine von der Tschechischen Republik ernstgenommene regionalpolitische Strategie? Karina Pallagst begrenzt ihre Betrachtung auf die EU-Initiativen INTERREG und PHARE und macht den Leser dadurch neugierig auf die Grenzen einer "grenzüberwindenden" Entwicklung Mitteleuropas.
Autor: James W. Scott

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 1, S. 90-92