Hans-Heinrich Nolte (Hg.), Klaas Bähre (Red.): Innere Peripherien in Ost und West. Stuttgart 2001. 188 S.

"Innere Peripherien in Ost und West" ist bereits der vierte Tagungsband, der seit 1988 zu diesem Thema von H.-H. Nolte herausgebracht worden ist. Der Band vereint elf Studien aus Geschichte, Ökonomie, Politologie, Geographie und Regionalwissenschaft, die teilweise recht unterschiedliche Ansätze und Ergebnisse zum Rahmenthema beisteuern.
Bei soviel Interdisziplinarität ist es für den Herausgeber in seiner Einführung (S. 7-31) nicht einfach, "Innere Peripherien" als Forschungskonzept zu identifizieren.

Er beschränkt sich daher auf eine eher deskriptive Zusammenfassung der Tagungsvorträge seit 1988. Dort wiederholt er: "Im Sinne eines Entwurfes für die geplanten Arbeiten wurde das Konzept 'Innere Peripherie' im Kontext der Weltsystemtheorie als Gebiet innerhalb eines Staates definiert, in dem die Bedingungen so organisiert sind, dass sie Personen zugute kommen, die im Zentrum leben." (S. 15) Es bleibt unklar, inwieweit sich dieser Definitionsversuch forschungspraktisch bewährt hat. Als heuristische Vorgabe und Katalysator für Studien über regionale Arbeitsteilung und regionale Disparitäten, zum Regionalismus und zur Regionalisierung war das Programm bisher sicher sehr produktiv, zumal hier eine Formel gefunden wurde, zu der sowohl aus West- wie auch aus Osteuropa interessante Beiträge geliefert werden konnten.
Die einzelnen Autoren machen denn auch deutlich, was für sie an der Problematik besonders faszinierend ist. Da ist vor allem die Umbewertung des Status von Regionen, der in Ost und West gegenläufige Richtungen aufweist: Im Westen werden Nationalstaaten im Zuge der europäischen Einigung zu Regionen und möglicherweise Peripherien gesamteuropäischer Zentren. In Osteuropa werden ehemalige Teilgebiete der Sowjetunion oder des RGW zu neuen Staaten. Die in Noltes Definition erfolgte normative Setzung des Staates mit entsprechend festen Grenzen wird also unterlaufen und durch den Gang der jüngsten Geschichte relativiert. Diese Dynamik macht das Thema so spannend, dass der in der Definition auch enthaltene statische Aspekt der für das Zentrum günstigen Organisation manchmal etwas zu kurz kommt.
Im Zuge der europäischen Einigung ist das "Europa der Regionen" sogar Programm, wie D. Eissel und A. Grasse in ihrem Beitrag zur Regionalpolitik der EU erläutern (S. 33-50). "Der Zentralstaat wäre der Verlierer, weil er nach oben und unten Macht verlieren würde", heißt es zu Beginn (S. 33). Allerdings sei die europäische Ausgleichspolitik nicht stark genug, um regionale Disparitäten wirksam zu bekämpfen. Nicht zuletzt hängt das mit der völlig unterschiedlichen politischen Verfassung europäischer Regionen zusammen, die wiederum erhebliche Planungs- und Kontrollprobleme hervorrufen. Die Autoren unterscheiden vier Typen: zum "föderalen" Typ gehören die Regionen Belgiens, Deutschlands und Österreichs, zum "regionalen" Typ die Italiens und Frankreichs, zum "unitarisch-dezentralen" Typ die Finnlands, Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande und zum "zentralistischen" Typ die Regionen Dänemarks, Irlands, Luxemburgs und Portugals. Bezeichnenderweise ist es vor allem die letztere Gruppe, in denen europäische Regionalpolitik zu einer Rangerhöhung von Regionen beigetragen hat, so etwa in Irland und Portugal. Auch Dänemark könnte man hier noch ergänzen.
Inhaltlich schließt hier der Aufsatz von N. Lange über Wirtschaftseliten zwischen Regionalismus und europäischer Integration an (S. 81-96). Dabei werden empirische Analysen über die Aktivitäten regionaler Unternehmerverbände in Katalonien, Galizien, Schottland und Wales ausgewertet. Etablierte, eingefahrene Strukturen genießen bei den Unternehmen größeres Vertrauen als neue, riskante ohne solche Erfahrungen. Diese Einstellung kommt sowohl in Spanien als auch in Großbritannien vor allem den nationalen Verbänden zugute, zumal diese auch der Staatsregierung näher stehen als die regionalen. "Lediglich in relativ reichen Regionen mit einer ausgebauten institutionellen Infrastruktur ist auch eine Unterstützung regionalistischer Bestrebungen durch mächtigere ökonomische Akteure vorstellbar. Statt mit einem "Europa der Regionen" hätten wir es dann mit einem sehr asymmetrischen regionalistischen Druck von unten zu tun." (S. 96). Leider wird nichts darüber gesagt, in welchem Umfang sich europäische Großunternehmen oder ihre regionalen Filialen in regionalen Unternehmerverbänden beteiligen - oder ob sie den direkten Kontakt nach Brüssel oder Straßburg vorziehen.
R. J. Treidel setzt in seiner Studie über interregionale Arbeitsteilung und Föderalismus in Spanien (S. 51-63) die Demokratisierung nach Franco mit der politischen Dezentralisierung in Beziehung und kommt zu dem Schluss, dass auf diese Weise bisher viele separatistische Tendenzen neutralisiert werden konnten. Die neuen Verfassung habe die Spielräume für die neu entstandenen Autonomien zunächst offen gelassen, um flexibel auf bestimmte regionale Entwicklungen reagieren zu können. Mit Galizien, Katalonien und Andalusien werden drei periphere Regionen untersucht, die völlig unterschiedliche Entwicklungspfade durchlaufen haben. Katalonien konnte dabei an erfolgreiche Modernisierungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. anschließen und ist heute die wohlhabendste Region Spaniens. Leider wird nicht untersucht, inwieweit diese Entwicklung mit der verkehrlichen Nähe zu den neuen gesamteuropäischen Zentren ("Blaue Banane") zusammenhängt, denn unter diesem Aspekt wäre Katalonien die am wenigsten periphere Region Spaniens.
In einem Aufsatz über die unterschiedlichen Bewertungen und Wahrnehmungen der komplexen Staatsstruktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von 1780 bis heute versucht T. Schwarze eine Aufwertung jener Reichsorganisation gegenüber der Napoleonischen Neuordnung (S. 67-79). Das nach unklaren Kriterien gesammelte und mit subjektiven Eigenbewertungen durchsetzte Material überzeugt wenig.
Wie interessant und lehrreich für gegenwärtige Prozesse eine historische Studie sein kann, beweist A. Komlosy mit ihrer Analyse regionaler Ungleichheiten in der Habsburgermonarchie (S. 97-111). Es geht u. a. darum, ob Österreich-Ungarn an seinem Entwicklungsrückstand bzw. den starken Disparitäten gescheitert sei. "Anders als im Begründungszusammenhang der Verzögerungstheorie wird hier die These aufgestellt, dass dieses gute Abschneiden (der böhmischen und alpenländischen Landesteile, H. K.) nicht trotz der stattfindenden Angleichung von Löhnen, Preisen und Zinsen, sondern gerade wegen der bestehenden regionalen Disparitäten zustanden kam, die nicht nur zwischen Industrie- und Agrarländern, sondern auch zwischen den Kern- und Randprovinzen innerhalb der einzelnen Länder existierten." (S. 104). Vielleicht noch wichtiger für das Thema des Buches ist das Statement: "Im Gegensatz zum Bild der Rückständigkeit und der Verzögerung, das in der Alltagssprache gern durch das einfache Kürzel "hinten nach" zum Ausdruck gebracht wird, entsteht Peripherisierung nicht durch Ausschluß, sondern durch den Einschluss in den Prozess der volkswirtschaftlichen Integration, Modernisierung und Konsolidierung: Peripherien stellen die Kehrseite der Zentrenbildung dar." (S. 99). "Diese Zweifel (an der Entwicklungsverzögerungshypothese, H. K.) fußen auf der Überlegung, dass seitens des Gesamtstaates gar kein Interesse am Disparitätenausgleich bestand. Denn die Entwicklungsgefälle stellten das Bindemittel dar, das Zentren und periphere Regionen miteinander verband." (S. 111) Damit geht sie weit über Nolte hinaus, der in merkwürdigem Widerspruch zum eigenen Konzept behauptet: "Nachweise über die Begünstigung einer Region im Kontext reiner Marktprozesse wurden auf den Konferenzen nicht vorgelegt. Ähnlich wie in der Frage des Beitrags der Peripherie zur Entwicklung des Zentrums auf Weltebene kann man den gegenwärtigen Stand der Forschung wohl dahin zusammenfassen, dass direkte Kapitaltransfers aus der Peripherie ins Zentrum selten umfangreich und insgesamt für die Entwicklung der Zentren wohl nicht entscheidend waren." (S. 26).
Die fünf letzten Beiträge befassen sich mit Russland. Der Überblicksartikel von B. Eschment zur regionalen Ungleichheit und staatlichen Politik in der russischen Geschichte bringt wenig Neues (S. 113-124). Sie behauptet wie üblich die ethnische Vielfalt Russlands, ohne daraufhin zu weisen, dass die sowjetische und heute russische Statistik nicht Ethnien erfasst, sondern Passnationalitäten. Das heißt: Jeder Sowjetbürger hatte in seinem Pass eine eindeutige Nationalitätenzuordnung eingetragen - auch wenn er Mischling war oder ist. Letzteres trifft in den großen Städten und Grenzregionen auf den überwiegenden Teil der Bevölkerung zu, sogar auf die "Russen". Von der internationalen Sprachenvielfalt der Sowjetunion, die sich in nationalen Kultureinrichtungen, Zeitungen, Büchern und Fernsehsendern niederschlug, ist wenig geblieben. Der Markt hat es geregelt: Die Kundenpotentiale sind zu klein, um solchen Strukturen privatwirtschaftlich ein Überleben zu ermöglichen. Selbst das Tatarische - nach dem Russischen die zweitwichtigste Sprache - hat Überlebensschwierigkeiten. All diese Informationen fehlen bei Eschment.
Gehaltvoller ist B. I. Povarnicyns Studie über Autonomie und Zugehörigkeitsgefühl in der russischen Region Perm (S. 125-133). Darin geht es um die im Ural gelegene Oblast' Perm, die 1989 3,09 und - wie aus heutiger Sicht zu ergänzen wäre - 2001 2,94 Millionen Einwohner (H. K.) hatte. Eine regionalistisch interessante Besonderheit ist darin zu sehen, dass seit 1937 ein Teil der Oblast' als Autonomer Okrug der Komi-Permjaken eine Sonderstellung genießt (2001: 0,15 Millionen Einwohner, H. K.). Seit 1992 besteht die verwaltungstechnische Paradoxie, dass der Okrug der Komi-Permjaken formal Teil der Oblast' Perm ist, andererseits aber mit ihr Föderationssubjekt Russlands ist und im Föderationsrat gleichberechtigt neben der Oblast' auftreten kann. Ökonomisch und haushaltstechnisch ist er nach wie vor vollständig von ihr abhängig. Erstmals in dem Buch wird hier auf national bedeutsame Großunternehmen verwiesen, deren Interesse vor allem auf nationale und internationale Märkte gerichtet sind. Die Eigenaktivitäten, aber auch die ihrer Belegschaft lassen regionalistischen Tendenzen wenig Spielraum. Das könnte sich ändern, wenn sich die Zentralregierung weiterhin als unfähig erweist, die Rahmenbedingungen für diese Unternehmen zu verbessern.
Stärker am Rahmenthema des Bandes orientiert ist T. Gadzhievs Aufsatz über die Staatlichkeit Dagestans (2001: 2,166 Millionen Einwohner, H. K.). Darin wird versucht, mit dem Rückgriff auf den frühmittelalterlichen Sarir-Staat eine eigene Tradition für die multiethnische nordkaukasische Autonome Republik aufzubauen. Jener Staat ging bereits im 12. Jahrhundert unter. Erst nach der Oktoberrevolution kam es zur Gründung einer Autonomen Sowjetrepublik in den heutigen Grenzen. In dem deskriptiv gehaltenen Artikel fehlen Hinweise darauf, dass Dagestan heute eine der ärmsten Regionen Russlands und somit als interessantes Beispiel einer inneren Peripherie dienen könnte.
Anschließend folgt ein Beitrag von K. Bähre über das benachbarte Tschetschenien. Darin geht es zunächst um den "Krieg in Tschetschenien", um die polarisierende Rolle Tschetscheniens, um "den Nordkaukasus", um die "Nordkaukasier", um "Sufismus", "Schamil", "Tschetschenien und die russische Revolution", "Tschetschenien unter der Sowjetmacht" und am Ende noch einmal um den "Krieg in Tschetschenien". Es ist wohl kein Versehen, dass zwei Kapitel dieselbe Überschrift tragen. Eigentlich könnte man auch die anderen so nennen. Denn nur darum scheint es zu gehen. Mit Aussagen wie "Hätte Russland nicht die Lufthoheit über Tschetschenien, wäre es schon längst wieder hinausgefegt worden. Ein paar hundert Stingers in den Händen der Tschetschenen würden diesen Krieg sehr schnell beenden. 'Ergeben' werden sich die Kämpfer erst recht nicht." (S. 177, 178) und "...dann kommt man unserer Ansicht nach nicht umhin zu sehen, dass die Entstehung eines islamistischen Staatswesens in Tschetschenien die wahrscheinlichste Perspektive ist." (S. 179) macht Bähre klar, wo seine Sympathien liegen. Die Literaturauswahl ist mit polnischen, jordanischen, türkischen, arabischen Internet-Seiten mehr als einseitig. So heißt es zur Beendigung des Aufstands des Imam Schamil im Jahre 1859, der mit seiner Familie in Kaluga interniert wurde: "Die damals in Russland herrschende Schicht war so zivilisiert, dass man den tapferen geschlagenen Feind nicht 'vernichtete', sondern ihn ehrenvoll internierte." (S. 168). Dass sie auch so "zivilisiert" war, Schamils Anhänger in einem grausamen Elendszug in das Osmanische Reich abzuschieben, wird nicht erwähnt. Fast ohne Quellenkritik werden auch anderswo Fehlurteile weitergegeben und falsche Informationen wiederholt.
Ebenso rigoros und einseitig wird Noltes Konstrukt von der Inneren Peripherie vom Tisch gewischt:
"In Tschetschenien werden die Lebensbedingungen nicht 'zum Vorteil von Menschen, die im Zentrum leben organisiert' (Nolte), sondern zum Vorteil von politischen Verbündeten des Zentrums, die in der Peripherie leben. Jedoch liegt Tschetschenien ohne Zweifel nicht im Inneren Russlands, sondern an seinem kolonialen Rand - gleich welchen Rechtsstatus es nun gehabt haben mag. Tschetschenien war und ist eine Annexionskolonie Russlands. Das Konzept der 'Inneren Peripherie' scheint uns also für Tschetschenien wenig ergiebig."(S. 168, 169).
Das führt zu der Frage, wie diese "Kolonie" mit ihrer Sprache, mit einigen ihrer Traditionen, mit ihrer kulturellen Autonomie bis 1990 überleben konnte. Unerwähnt bleibt das heute zerstörte petrochemische Kombinat von Groznyj - ein riesiges Spezialunternehmen mit Monopolstellung bei der Herstellung von Präzisionsfetten im gesamten Ostblock. Das Kombinat war ein Unionsbetrieb. Es gehörte also weder der Autonomen Republik noch Russland, sondern einem Unionsministerium. Seine Infrastrukturleistungen, sein Konsum an Waren und Dienstleistungen waren die Grundlage für das bescheidene kleine Wirtschaftswunder, das die Autonome Republik von ihren ärmlichen Nachbarn seit den sechziger Jahren unterschied. Wie in anderen islamisch geprägten Regionen der Sowjetunion wurden Frauen in wichtige Berufe eingesetzt: Frauen als Ärzte, Lehrer und vor allem als Richter - während die kommunistische Partei der Republik männlich blieb. Es wuchs eine ganze Generation von sowjetisch geprägten Nordkaukasiern heran, die in vieler Hinsicht ebenso zum sowjetischen Bürgertum zählen wie andere auch. Als in den achtziger Jahren der wirtschaftliche Niedergang immer deutlicher wurde, begann diese neue Intelligenz abzuwandern - in die südkaukasischen Metropolen, nach Moskau und auf gut bezahlte Jobs in Sibirien. So verfügt Tschetschenien heute über mehrere Diasporas: Migranten und Flüchtlinge in vielen Teilen der früheren Sowjetunion, eine Händlerschicht in Südrussland und Sibirien, Bürgerkriegsflüchtlinge im Nordkaukasus und die Nachkommen der Anhänger von Schamil und der Revolutionsflüchtlinge, deren bedeutendste Gruppe im heutigen Jordanien lebt - und die mit Abstand meisten Internet-Aktivitäten bestreitet.
"Die Tschetschenen und Inguscheten zeichnen sich gegenüber den anderen Nordkaukasiern und gegenüber den meisten anderen Völkern durch eine besonders egalitäre Sozialverfassung aus", schreibt Bähre auf S. 166. Er meint damit, dass es dort keinen Adel und keine Oberschicht gegeben hätte. Dabei unterschlägt er allerdings, dass die Tschetschenen sich selbst als Oberschicht sehen - über ihre Sklaven und über ihre Frauen. Beides - sowohl die Sklaverei wie auch die Entrechtung der Frau - sind wichtige Kriegsziele einiger tschetschenischer Warlords von heute. Diese Gruppe als Sprecher des heutigen Tschetschenentums anzusehen, ist schon angesichts der Zahlenverhältnisse absurd. Ein Großteil der Tschetschenen hat die vom Bürgerkrieg verwüstete Republik längst verlassen - aber nicht in Richtung der islamischen "Freunde" in der Türkei, Aserbaidschan und Jordanien, sondern überwiegend in Richtung Norden. Selbst die offizielle sicher geschönte Einwohnerzahl Tschetscheniens betrug 2001 nur noch 0,6 Millionen Einwohner (H. K.). Zu Beginn der neunziger Jahre waren es über eine Millionen (H. K.). Tschetschenische Flüchtlinge, Frauen oder Intellektuelle kommen bei Bähre überhaupt nicht zu Wort. Stattdessen schwadroniert er:
"Wenn überhaupt eine gesellschaftliche Kraft das Potential hat, die Tschetschenen in das moderne Konzept des 'Staates' hineinzubringen (nach dem nun einmal bis zum endgültigen Beginn der Postmoderne das internationale politische System organisiert ist; K. B.), dann ist es der politische Islam. Die Frage, ob er in Tschetschenien mehrheitsfähig ist oder sein wird, ist hier ebenso sekundär wie die Frage, ob man als Westler eine Talibanisierung Tschetscheniens und möglicherweise auch Dagestans für wünschenswert hält." (S. 179). Darüber, wie so etwas in die am Anfang des Buches vorgestellte Gedankenwelt vom zusammenwachsenden Europa passen soll - Armenien, Georgien und Aserbaidschan sind bereits Mitglieder des Europarates -, verliert Bähre keinen Gedanken. Es berührt ihn offenbar auch nicht, dass der Kursker Geograph V. Popkov in einer abwägenden Analyse zur Integration tschetschenischer Migranten - der Fall Kaluga - viele der simplifizierten nationalistischen Aussagen im selben Buch (S. 135-143) relativiert.
Sehr bedenklich stimmt, dass Nolte selbst die Bähreschen Tiraden zum Anlass nimmt, sein Konzept von der Inneren Peripherie einzuschränken: "Es scheint deshalb, dass die Kategorie 'Innere Peripherie' auf Tschetschenien nicht anwendbar ist." (S. 29) Demnach müsste man also irgendwann mit einem vereinten Europa vom Atlantik bis zum Kaspischen Meer rechnen, in dem Asterix und Obelix von einem kleinen, aber unabhängigen Tschetschenien aus die eine oder andere Attacke gegen Moskauer oder Frankfurter Hochhäuser fliegen. Wenn Noltes Konzept so etwas gestattet, muss die Frage erlaubt sein, wie falsch/richtig oder brauchbar/unbrauchbar das Konzept selbst ist. Mit Komlosy kann man behaupten, dass es auf jeden Fall ergänzt werden muss. Der Charakter eines Marktes impliziert, dass an einem Punkt produziert und an vielen anderen Punkten ("Ergänzungsraum", "Peripherie") nachgefragt wird. Das zwingt zur Beschäftigung mit der Neuaufteilung europäischer Märkte im Rahmen der politischen Integration, die ja gerade der Marktvergrößerung dient. Ob Unternehmen und Politik dann auch die sozialen Kosten der räumlichen Zentralisierung zu tragen bereit sind, ist eine zweite, aber genuin andere Frage. Eine dritte Frage betrifft die Installation von Infrastrukturen, die räumliche Arbeitsteilungen vertiefen und damit regionale Peripherisierungen begünstigen können. Die vierte Frage muß die Preisbildung im übernational integrierten Wirtschaftssystem thematisieren: Wer macht wo welche Preise? Noltes bereits zitiertes Statement darüber, dass die Peripherie die Zentren nicht sonderlich refinanziert habe (S. 26), ist in diesem Zusammenhang ungeheuer naiv. Selbst die OPEC musste den Versuch, gegen das Zentrum einen aus Produzentensicht gerechteren Ölpreis durchzusetzen, im Endeffekt sehr teuer bezahlen. Die fünfte Frage zielt auf das eigentliche Schattenthema des Buches: Staatliche Grenzen sind heute und gerade in Europa nicht mehr so normativ, so undurchlässig, dass sie als alleinige Axiome für Innen-/Außen-Differenzen dienen können. Man muß auch andere Grenzen berücksichtigen - etwa die der Aktionsräume transnationaler Unternehmen. In diesem Sinne könnte man auch die EU als eine unter vielen transnationalen Organisationen auffassen, die sich seine neuen inneren und äußeren Peripherien schafft. Zu diesem Thema liegen interessante Ansätze aus Skandinavien vor (Überblick in Eskelinen, Snickars 1995), die bisher bei Nolte überhaupt nicht berücksichtigt wurden.
Literatur
Eskelinen, H., F. Snickars (Hg.)1995: Competetive European peripheries. Berlin, Heidelberg, New York.
Autor: Helmut Klüter

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 2, S. 64-71