Lexikon der Geographie (Hg. Peter Meusburger et al.). Band 1. A bis Gasg. Heidelberg, Berlin 2001. 426 S.

Es trägt sicherlich nicht zu einem guten ersten Eindruck von einem Buch bei, wenn der Rezensent vom Verlag (Spektrum-V.) ein Exemplar erhält, das wie ein Taschenbuchremittend vom Wühltisch eines Kaufhauses bestempelt ist. Da aber Bücher im Normalfall nicht für Rezensenten geschrieben werden, sollen sich die folgenden Ausführungen auf die Qualitäten für andere Zielgruppen beschränken.

Übersichtlich in zwei Spalten mit einer zusätzlichen Randspalte gesetzt, deckt das Lexikon ein weites Spektrum zwischen kurzen Worterklärungen und mehrseitigen Artikeln und Essays ab, oft ergänzt durch Grafiken und Karten. Ein ausgefeiltes Verweissystem regt dazu an, von einem Begriff zum nächsten weiterzugehen und das Buch so zum Schmökern zu nutzen und sich in der Vielfalt der angebotenen Informationen und Wortbedeutungen zu ergehen.
Nach einem ersten derartigen Durchgang, bei dem viele interessante Begriffe auftauchen, bietet es sich an, das Lexikon nach bestimmten Wörtern zu durchsuchen und zu überprüfen, ob "das denn alles richtig ist", d. h. das eigene Begriffsverständnis mit dem der Autoren zu vergleichen. Hier dürfte es bei der Mehrzahl der Leser sicher kaum zu Irritationen kommen, da die "180 namhaften Autoren aus Forschung und Lehre" (Klappentext) in ihren Beiträgen geringe Affinitäten zu Heterodoxien zeigen und so der geographische mainstream sehr gut abgedeckt wird. Insofern ist den Herausgebern zuzustimmen, wenn sie das Werk als "echte [!] Gemeinschaftsleistung der [!] deutschsprachigen Geographie" (Vorwort) bezeichnen - weist diese Emphase doch auf den Inklusionscharakter des Lexikons und damit auf das Ziel der Gemeinschaftsstiftung hin.
Unabhängig von diesem wissenschaftspolitischen Ziel stellt sich die Frage nach dem praktischen Nutzwert des Werks. Wie bei allen Lexika bemisst sich dieser zunächst weniger nach dem Inhalt einzelner Begriffserklärungen als danach, welche Wörter überhaupt erläutert werden und welche nicht. Nimmt man etwa die erste Seite der Stichwörter mit dem Anfangsbuchstaben B, finden sich folgende: Background-Aerosol [Aerosol-Typ, auf 9 Zeilen erklärt], backward-linkages [Verweis auf "linkages"], backwash effect [Form der Zentrum-Peripherie-Beziehung, 4 Z.], Baer [russischer Naturforscher, 28 Z.], Bahaismus [Religion, 30 Z.], Bahnreform [30 Z.], Bajada [Saum eines Typs von Schwemmfächer in SW-USA, 13 Z.], Bajado [Typ eines Trockentals in Spanien, 11 Z.], Bajir [Bezeichnung für Salztonebenen im Tarimbecken, 3 Z.], Bakterien[22 Z.].
Bereits diese Auflistung zeigt ein Sammelsurium von Begriffen, die eine Spannweite zwischen Inhalten hochspezialisierter Regionaler Geographie und alltagssprachlich fixiertem Wissen abdecken, d. h. einmal zum Wissensbestandteil eines durchschnittlich informierten Zeitungslesers gehören, einmal zu einem sehr engen Spezialgebiet zu zählen sind.
Den Eindruck von Heterogenität verstärkt der Vergleich mit einem Konkurrenzprodukt, dem Diercke Wörterbuch "Allgemeine Geographie", wo anders als im vorliegenden Lexikon Wörter wie Bach, Bad oder Badland zusätzlich erklärt werden, das Baer'sche Gesetz anstelle von Karl Ernst Baer erwähnt wird, das Bahnhofsviertel offensichtlich wichtiger als die Bahnreform ist und Bakteriophagen den Vorzug vor Bakterien erhalten. Warum bestimmte Begriffe überhaupt erläutert werden und andere nicht, lässt sich jedoch weder aus den Begriffen selbst noch aus dem Vergleich der beiden Bücher erschließen.
Damit kann die Frage nach dem Gebrauchswert des Lexikons letztlich nur durch den Bezug auf die Adressaten beantwortet werden, dies sowohl implizit (welche Nutzer können welche Informationen aus dem Lexikon gewinnen) als auch explizit (was ist die avisierte Zielgruppe der Herausgeber). Die im Buch selbst formulierten Hinweise sind uneindeutig. Laut Klappentext "richtet (es) sich an Wissenschaftler, Forscher [?], Lehrer und Studenten und bietet allen naturwissenschaftlich Arbeitenden und Interessierten aktuelles ... [etc.] Wissen." Dieser Satz kann selbstverständlich nicht ernst genommen werden: So kommt "aktuelles Wissen" aus "harten" Naturwissenschaften wie Physik, Chemie usw. in dem Buch überhaupt nicht vor, zugleich verwundert diese Hervorhebung der - letztlich wohl mit "Naturwissenschaften" gleichgesetzten - Physischen Geographie, deckt das Lexikon doch die gesamte Allgemeine Geographie sowie Begriffe aus der Regionalen Geographie ab.
Das Vorwort der Herausgeber gibt gleich gar keine Antwort, zu welchem Zweck und für welche Nutzer das Lexikon erstellt wurde. Lediglich mittelbar können Schlussfolgerungen gezogen werden: So weist das Vorwort zunächst ausführlich darauf hin, wie wichtig "mehrdimensionale Erklärungsansätze und ... die Fähigkeit, in Systembeziehungen zu denken", und damit die Geographie als Wissenschaft für die Bewältigung zahlreicher ökologischer, politischer und kultureller Probleme seien. Daran schließt sich folgende Bemerkung zum Lexikon an: "Um diesen integrativen Charakter der Geographie zu unterstreichen, werden die beiden großen Teilbereiche der Geographie - die Humangeographie und die Physische Geographie - im vorliegenden Lexikon nicht getrennt dargestellt."
Man kann dies nun so interpretieren, dass das Lexikon durch seine Konzeption demonstrieren will, dass die Geographie eine zur Lösung der zahlreichen Probleme auf der Welt geeignete Wissenschaft sei, das Lexikon mithin als Ausweis der Problemlösungskompetenz der Geographie aufzufassen ist. Eventuell ist aber auch gemeint, dass das Lexikon selbst bereits ein Beitrag zur Problemlösung ist. Konkrete Hinweise auf Nutzer oder Nutzungsformen lassen sich aber weder direkt aus dem Vorwort noch aus den abgeleiteten Interpretationen entnehmen.
Da das Lexikon keine eindeutigen Angaben dazu macht, wer es zu welchem Zweck nutzen soll, bleibt als letzte Möglichkeit, Mutmaßungen an Hand der dargebotenen Inhalte anzustellen. Wie bei der Auswahl der Stichwörter ist es jedoch weitgehend unmöglich, aus den einzelnen Begriffserklärungen auf ein konsistentes Bild der potentiellen Nutzer zu schließen: Hochkomplexe und -informative Darstellungen wechseln sich mit simplen Definitionen und trivialen Ausführungen ab. Ähnliches gilt für die Abbildungen, bei denen ein negativer Höhepunkt durch die Präsentation von "Ethnien" (Farbtafel VIII; etwa: "Kurden in Teheran") im Stil der Völkerschauen aus dem 19. Jahrhundert erreicht wird - arrangierte Gruppenfotos fremder Menschen in exotischer Kleidung, nur leider ohne eine Abbildung von Campern in ballonseidenen Trainingsanzügen oder von Geographentagsbesuchern mit der Unterschrift "Deutsche in XY".
Insgesamt lässt die inhaltliche und qualitative Heterogenität des Lexikons keinen befriedigenden Schluss auf die potentiellen und tatsächlichen Nutzer bzw. Nutzungsmöglichkeiten zu. Vielleicht ist es für Laien geeignet, die geographische Texte lesen möchten und an Begriffen wie Bajir oder Bajada zu scheitern drohen; "Bakterien" oder "Bahnreform" werden aber auch diese Nutzer dort kaum nachschlagen. Am ehesten ist das Lexikon für Studierende zur Zwischenprüfung geeignet, da es einzelne Begriffe, die in den einschlägigen Lehrbüchern eventuell nicht verständlich genug erklärt werden, noch einmal erläutert.
Am wichtigsten scheint jedoch eine dritte Funktion zu sein, die unabhängig von etwaigen Nutzern ist: Das Lexikon definiert, was (zumindest randlich) Thema und Zielsetzung der deutschen Hochschulgeographie ist, und kanonisiert damit eine bestimmte Praxis von Wissenschaft. Insofern ist das Lexikon ein wichtiges, vielleicht sogar unverzichtbares Element des aktuellen (auch personellen) Umbaus geographischer Wissenschaft.
Autor: Wolfgang Aschauer

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 2, S. 74-76