Uwe Pfullmann: Politische Strategien Ibn Sacuds beim Aufbau des dritten saudischen Staates. Eine historische Studie unter besonderer Berücksichtigung deutschen Archivmaterials. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996 (Leipziger Beiträge zur Orientforschung 8).

Es gibt Bücher, mit deren Lektüre man am Ende beginnen sollte. Das hervorragende Werk von PFULLMANN über die politischen Veränderungen auf der Arabischen Halbinsel während des 19. und 20. Jahrhunderts gehört zweifellos dazu. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen muss der akribisch recherchierte und mit vielfachen Quellenhinweisen versehene Detailreichtum der ersten Kapitel auf eine breitere Leserschaft - die weniger intensiv als der Autor mit der Regional- und Herrscherfamiliengeschichte Arabiens vertraut ist - zunächst verwirrend wirken; zum anderen fasst das letzte und kürzeste von insgesamt sieben Hauptkapiteln die wichtigsten Punkte der vorangegangenen Abschnitte prägnant zusammen. Während ein eigentliches Fazit oder Schlusskapitel fehlt, übernimmt diese Funktion Kapitel 7, das mit "Politische Strategien Ibn Sacu¯ds beim Aufbau des dritten saudischen Staates" bezeichnenderweise genauso überschrieben ist wie das Gesamtwerk. Es wird darin deutlich gemacht, wie sehr die Herausbildung des Königreiches Saudi-Arabien mit dem Wirken des Staatsgründers, Ibn Sacu¯d, verbunden ist. PFULLMANN charakterisiert ihn als einen der bedeutendsten arabischen Politiker des 20. Jahrhunderts. Betont wird dabei, dass es neben dem geschickten Jonglieren zwischen kolonial ambitionierten Großmachtinteressen und dem - häufig auch gewaltsamen - Ausschalten arabischer Konkurrenzdynastien vor allem eine kluge Heiratspolitik war, der als Instrument der Machtkonstitution eine entscheidende Rolle zukam.
In den einleitenden Kapiteln werden zunächst die geschichtlichen Hintergründe des ersten saudischen Staates (1744-1818) und des zweiten saudischen Staates (1821-1891) im politischen Spannungsfeld zwischen Ägypten, dem Osmanischen Reich und Großbritannien dargestellt. Dabei kommt es dem Autor darauf an, Entstehung, religiöse Quellen und Ziele des wahabitischen Reformislam darzustellen sowie seine ideologische und später staatstragende Bedeutung herauszuarbeiten.
Im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen die strategischen Bemühungen zur Wiedererrichtung des saudischen Staates seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Exil Ibn Sacu¯ds in Kuweit, die Rolle rivalisierender Großmächte am Arabisch-Persischen Golf sowie die britisch-osmanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichnen dabei die außenpolitische Dimension, während im Innern die Wiedereroberung Ar-Riya¯d.s, die Konsolidierung der saudischen Machtposition im Nag?d sowie die saudisch-haschimitischen Auseinandersetzungen und vor allem die immer wieder aufflammenden Zusammenstöße mit den Interessen des S?ammar-Emirates prägend wirken. PFULLMANN macht deutlich, dass die im Westen unter der Überschrift "Der Aufstand in der Wüste" populär gemachte Ablösung von der osmanischen Vorherrschaft während und nach dem Ersten Weltkrieg wesentlich facettenreicher war, als vielfach dargestellt. Kritisch setzt sich der Autor dabei mit dem in der zeitgenössischen Presse Europas und Amerikas übersteigert positiv dargestellten Außenbild Ibn Sacuds auseinander. Dieses interpretiert PFULLMANN in erster Linie als eine Folge des offenen und freundlichen Umgangs mit Pressevertretern und sieht dieses Image in deutlichem Gegensatz zum rücksichtlosen und brutalen Vorgehen Sacuds bei innerarabischen Auseinandersetzungen. Der zweite Hauptteil der Arbeit befasst sich mit dem Einbruch des Pilgerwesens Mitte der zwanziger Jahre, den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Arabien und den deutsch-saudischen Beziehungen im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Im Vordergrund steht dabei die Auswertung umfangreichen Archivmaterials, das in der hier vorliegenden Form erstmals unter dem Aspekt seiner Rolle für Staatenbildungsprozesse auf der Arabischen Halbinsel untersucht wird. Die Bedeutung des Erdöls und der geheime Kampf um Einfluss und Konzessionen zwischen den USA und Großbritannien leiten dabei in die heutige Situation über und belegen, dass das Werk von PFULLMANN deutlich mehr als nur historische Positionen beleuchtet. Einen ausgesprochen spannenden Abschluss bildet das prognostische Kapitel mit dem Aufzeigen verschiedener Thronfolgeszenarien nach dem Tod von König Fahd.
Allgemein fällt auf, dass die hohe Qualität des Textteils in deutlichem Gegensatz zum ausgesprochen mangelhaften Materialteil der Arbeit steht. Bei fast allen im Kapitel "Geographische Karten" gezeigten Übersichtsdarstellungen fehlen Maßstab, Orientierung und Legende! Alle Karten sind aus anderen, allerdings sehr genau zitierten Quellen, übernommen worden. Die dabei vorgenommenen Reproduktionen und Verkleinerungen haben die Lesbarkeit einiger Abbildungen teilweise so sehr beeinträchtigt, dass - wie bei der Karte "Die Verbreitung der arabischen Stämme auf der Arabischen Halbinsel" (S. 553) - ihre Lektüre eher zur Verwirrung als Erhellung des Lesers beiträgt. Warum die in übersichtlichen Abstammungsdiagrammen erläuterten Genealogien in der Gliederung als ein Unterkapitel des "Kartenteils" ausgewiesen werden, bleibt unklar, zumal ihnen der Stellenwert einer nahezu unverzichtbaren Lesehilfe zukommt.
Insgesamt ermöglicht die detailliert recherchierte Monographie, das Wirken Ibn Sacu¯ds einzuschätzen sowie Grundzüge seines Machtinstrumentariums aufzuzeigen. Durch die detaillierte Analyse historischer Quellen sowie insbesondere durch die Auswertung deutschen Archivmaterials aus der Zeit zwischen 1925 und 1945 gelingt es, unterschiedliche europäische und amerikanische Politikinteressen im Nahen und Mittleren Osten aufzuzeigen und auf z. T. bis heute bestehende Widersprüchlichkeiten hinzuweisen. Vor allem die kompetente Quellenaufarbeitung und deren transparente Präsentation tragen dazu bei, dass sich die vorgestellte politische Biographie nahtlos in die Reihe der wichtigen Standardwerke zur Geschichte Arabiens einreihen wird.
Autor: Andreas Dittmann

Quelle: Erdkunde, 57. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 69