Julia Lossau: Die Politik der Verortung. Eine Postkoloniale Reise zu einer ANDEREN Geographie der Welt. Bielefeld 2002. 227 S.

JULIA LOSSAUS "Politik der Verortung" führt den Leser auf eine "postkoloniale Reise zu einer ,ANDEREN' Geographie der Welt". Dieser Weg beginnt mit einer theoretisch kenntnisreichen und tiefgründigen, dabei gleichzeitig sprachlich ausgesprochen gut lesbaren Einführung in die konzeptionellen Grundperspektiven postkolonialen Denkens in den Kulturwissenschaften.

Eine Bedingung gilt, so LOSSAU selbst, um sich auf diesen spannenden Anfang einzulassen: Man muss "die Frage, ob dieses Buch ,überhaupt noch Geographie ist', hintanstellen" (S. 73), denn zunächst ist der Bogen transdisziplinär angelegt. Er bietet neben den erkenntnistheoretisch-philosophischen Grundlagen eine auf einer breiten Wissensbasis aufbauende Darstellung der Kernkonzeptionen des Postkolonialismus in den benachbarten Kulturwissenschaften (z. B. ENGELMANN, HALL, NASSEHI u. a.). Deshalb ist das Buch wichtig für die Diskussion in Deutschland, weil hier Konzepte, die teilweise im angloamerikanischen Kontext schon seit einigen Jahren intensiv besprochen, sehr gut zusammengefasst, neu verwoben und weitergedacht werden.
Von dort aus führt der Spannungsbogen weiter über die Folgen einer solchen Theoriekonzeption für die Gesellschaft bis hin zu den Konsequenzen für deren geographisch-räumliche Vorstellungsbilder und Repräsentationsweisen. Das Ziel sieht LOSSAU hier v. a. darin, "den Glauben an die Natürlichkeit von Welt-Bildern im allgemeinen und des neuen kulturellen Koordinatensystems im besondern zu erschüttern - oder auch, diesen Glauben zu dekonstruieren" (S. 15). Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage stehen dann die Konsequenzen für die Geographie im Mittelpunkt. Hier greift die Autorin die wesentlichen Ansätze im angloamerikanischen Sprachraum auf (z. B. Konzeptionen von GREGORY, MASSEY, SOJA u. a.), um zu zeigen, welche Möglichkeiten ein solches Denken bei der theoretischen Grundlegung der Rolle "des Raumes" für die Gesellschaft eröffnen kann. LOSSAU bietet in diesem Kapitel nicht nur eine kritische Rezeption traditioneller Ansätze, sondern auch eine kurze, an manchen Stellen etwas überpointiert wirkende Auseinandersetzung mit jüngeren, einem spätmodernen "one-worldism" (S. 101) verpflichteten Theoriekonzepten der deutschen Sozialgeographie.
Ein wesentliches Ziel postkolonialer Geographie sieht LOSSAU im Sichtbarmachen der subtilen Ein- und vor allem Ausschlüsse bei der sprachlichen Erschaffung der Geographien unserer alltäglichen (und politischen) Welten. Postkoloniale geographische Forschung dient dann dazu, das ganze Feld möglicher Differenzen hervortreten zu lassen. Sie will dadurch "anderen, ausgeschlossenen Wahrheiten zu ihrem (zu) Recht ... verhelfen" (S. 107). JULIA LOSSAU lässt die Leser aber nur kurz in den Abgrund der normativen Relativität einer solchen Position schauen, indem sie auf die beständige Notwendigkeit der eigenen Positionierung hinweist und diese dann auch sehr überzeugend im Rückgriff auf den Ansatz eines "taktischen Essentialismus" präzisiert.
Wenn aber das Rezept einer stärkeren Differenz als "Werkzeug zur Anerkennung von Vielheiten" (S. 26) nach LOSSAU den Weg zu "besseren Zukünften der Disziplin" weisen soll, dann muss gesagt sein, dass ein solches Konzept der Offenheit selbst natürlich eine normative Setzung darstellt. Sobald man dieses als "besser" definiert (und nicht neutraler als
"anders"), läuft man Gefahr, die derzeitigen Formen einer schließenden, vereinfachenden, auf Generalisierung angelegten Konzeption der Wissenschaft zumindest implizit zu diskriminieren und damit selbst wieder in Gegensatz zum Prinzip der Offenheit zu treten (vgl. dazu z. B. die Position von FOUCAULT).
Wenn sich JULIA LOSSAU in einem ihrer Kapitel exemplarisch genauer mit der Entwicklung der Politischen Geographie beschäftigt, erscheint die ansonsten sehr offene Perspektive in zweierlei Hinsicht verengt: Ihr Blick konzentriert sich in einer etwas unplausibel wirkenden Schließung allein auf die Politische Geographie im deutschsprachigen Raum und blendet aus, dass es gerade die politische informierte Geographie im angloamerikanischen Kontext war, die dort die gesellschaftstheoretische Diskussion in der gesamten Kulturgeographie seit den 70er Jahren wieder neu belebt hat, und die auch für die postkoloniale Debatte wegbereitend gewesen ist. Hinzu kommt, dass sich auch die deutschsprachige Politische Geographie seit Mitte der 90er Jahre deutlich gewandelt hat, insbesondere im Umfeld des neuen Arbeitskreises Politische Geographie.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Buch von JULIA LOSSAU ist für theoretisch-konzeptionell Interessierte überaus inspirierend zu lesen, aber es bietet gleichzeitig aufgrund seiner klaren Sprache auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit etwas weniger Vorwissen auf diesem Feld die Möglichkeit, einige Kernansätze des Postkolonialismus und seiner möglichen Konsequenzen für die Kulturgeographie kennen zu lernen. Es ist ein Buch, dessen Schlussfolgerungen sicher kontrovers aufgenommen werden, so kontrovers, wie die Diskussion um postmoderne Ansätze selbst in der deutschsprachigen Geographie verläuft. Zum Fortschritt dieser Debatte leistet das Buch aber einen wichtigen und sehr kreativen Beitrag.    
Autor: Paul Reuber

Quelle: Erdkunde, 57. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 72