Geopolitik: Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte. Wien 2001 (Kritische Geographie 14). 239 S.

Das Wort Geopolitik fristete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs insbesondere im deutschen Sprachgebrauch lange ein Schattendasein. Mittlerweile ist es jedoch (wieder) zu einem magischen Wort geworden, das ganz unterschiedliche Realitäten gleichsam herbeizuzaubern vermag. Sei es die Legitimität militärischer Auslandseinsätze aufgrund geopolitisch motivierter "ethnischer Konflikte", sei es die Notwendigkeit der Schaffung eines "Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten", in dessen gedachter Mitte ein geopolitisch evidentes "Kerneuropa" steht, oder sei es (nach wie vor) die Schicksalhaftigkeit "unserer" geopolitisch unhintergehbaren "Mittellage", die "uns", wie der ehemalige Bundespräsident RICHARD VON WEIZSÄCKER in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.3.1992 schreibt, "nach 1914 in zwei Weltkriege geführt hat": die Legitimität, die Notwendigkeit oder die Schicksalhaftigkeit, zumindest aber die Faktizität all dieser Sachverhalte kann mittels ihrer Ausweisung als geopolitisch herbeigezaubert werden.
Während die deutschsprachige Geographie diese Entwicklung zunächst weitgehend ignoriert bzw. schweigend zur Kenntnis nahm, hat vor einigen Jahren eine lebhafte Diskussion um Geopolitik und Politische Geographie eingesetzt. Verwiesen sei nur auf diverse Fachtagungen und Sitzungen im Rahmen der letzten "Deutschen Geographentage", die maßgeblich auf die Aktivitäten der Arbeitskreise Geopolitische Analysen einerseits und Politische Geographie andererseits zurückgehen. Mit den Plädoyers für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Geopolitikbegriff ging der Aufruf einher, sich über das bisherige Maß hinaus an den internationalen und interdisziplinären Diskussionen um Geopolitik und politische Raumkonzepte zu beteiligen, die sich um ein besseres Verständnis der globalen und internationalen Politik bemühen.
In diesem Licht kann auch der vorliegende Sammelband gelesen werden, der sich als ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Geopolitikbegriff ("Ideologiekritik politischer Raumkonzepte") versteht und eine erfreuliche Vielfalt von disziplinären und theoretischen Zugängen zur Thematik aufweist. In den versammelten Beiträgen werden Grundlagen und Wirkungsmacht politischer Raumkonzepte aus historischer, kulturtheoretischer, poststrukturalistischer und regulationstheoretischer Sicht beleuchtet und kommentiert. Zudem bietet der Band willkommene Einblicke in die angelsächsische und die französische Geopolitikdebatte, enthält er doch erstmals ins Deutsche übersetzte Aufsätze des "Vordenkers" der critical geopolitics, GEARÓID Ó TUATHAIL, sowie des "Begründers" der neuen französischen Geopolitik, YVES LACOSTE.
Dass es in Anbetracht der theoretischen und "geographischen" Vielfalt schwer fällt, einen Aufbau zu entwickeln, der allen im Band versammelten Ansätzen gerecht wird, liegt auf der Hand. Ausgehend vom "Wandel in den geopolitischen Strategien und den dahinter stehenden Raumkonzepten" (REINHARD ZEILINGER u. CHRISTIAN RAMMER im Vorwort des Bandes), wie er nach 1989 (vermeintlich) stattgefunden hat, unterscheidet die Gliederung zwischen modernen Raumkonzepten (vor 1989) und postmodernen Raumkonzepten (nach 1989). Während erstere im ersten Kapitel unter der Überschrift "Politische Raumkonzepte in der Moderne" behandelt werden, versammelt das zweite Kapitel verschiedene Beiträge unter der Überschrift "Politische Raumkonzepte in der Postmoderne". Innerhalb dieser beiden Teile finden sich jeweils Unterkapitel zur nationalstaatlichen Ebene einerseits und zur globalen Ebene andererseits; abgeschlossen wird der Band mit einem Aufsatz von GEARÓID Ó TUATHAIL, der unter der Überschrift "Ausblick" das dritte Kapitel bildet.
Zwar wirkt diese Gliederung auf den ersten Blick übersichtlich und stringent. Auf einen zweiten Blick offenbaren sich jedoch einige Schwächen, insbesondere aus poststrukturalistisch-kulturtheoretischer Sicht. Dies gilt zum einen für die maßstäbliche Unterscheidung nationale vs. globale Ebene. Sie ist aufgrund ihrer schematischen Einfachheit schlicht nicht durchzuhalten - was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass "maßstäbliche Grenzüberschreitungen" innerhalb der einzelnen Beiträge weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel darstellen.
Aber auch die zeitliche Gliederung nach "Moderne" und "Postmoderne" ist nicht so unproblematisch, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. So wird der historische Wandel von der "kapitalistische[n] Expansionsphase unter nationalstaatlichen Rahmenbedingungen" hin zu den "neuen Rahmenbedingungen, die mit dem Ende der Systemauseinandersetzung (...) entstanden sind und auf die Geopolitik rückwirken" (ZEILINGER u. RAMMER, S. 8), unbefragt vorausgesetzt und durch die Kapitelüberschriften (re-)produziert. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diesem Wandel tatsächlich grundsätzlich veränderte bzw. neue gesellschaftliche Verhältnisse oder "lediglich" veränderte Beobachtungs-Verhältnisse (auch innerhalb der Wissenschaften) zugrundeliegen. In Teilen der poststrukturalistisch-kulturtheoretischen Kritik und damit auch in Teilen der critical geopolitics jedenfalls wird weniger von einer veränderten Wirklichkeit als vielmehr von einer kognitiven Verschiebung ausgegangen: von einer kognitiven Verschiebung, im Rahmen derer Kontingenz in den Blick gerät und die letztlich die derzeitige Popularität des Geopolitikbegriffs zu erklären vermag. Denn der Einsatz des Geopolitikbegriffs suggeriert aus dieser Perspektive genau diejenige vermeintlich natürliche Ordnung und Orientierung, deren Verlust im Lauf der letzten zehn Jahre immer wieder beklagt worden ist.
Letzterem würden aber wohl auch REINHARD ZEILIGER und CHRISTOPH RAMMER zustimmen - schreiben sie doch implizit, dass geopolitischen Konzepten insofern eine Renaissance auf breiter Ebene beschert sei, als sie das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit stimulierten (ZEILINGER u. RAMMER, S. 7-8). Und auch wenn (oder vielleicht gerade weil) die konzeptionelle Ebene des Bandes einige Fragen aufwirft, bietet der Band insgesamt einen lohnenden Einblick in die kritischen Debatten, die rund um das Zauberwort Geopolitik geführt werden.    
Autorin: Julia Lossau

Quelle: Erdkunde, 57. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 73