Aurelia George Mulgan: The Politics of Agriculture in Japan. London, New York 2000. 856 S.

In der westlichen, vor allem deutschen Japanforschung ist die Landwirtschaft Japans extrem unterbelichtet. Dies erscheint einerseits verständlich angesichts ihrer enorm geschrumpften Bedeutung (weniger als 5% Anteil an der Erwerbsbevölkerung, lediglich 1,3% Anteil am Bruttoinlandsprodukt), andererseits verwunderlich, denn gemessen an ihrem dramatischen Rückgang spielt sie immer noch eine herausragende Rolle in der politischen Ökonomie des Landes.

AURELIA GEORGE MULGAN, Dozentin an der School of Politics, University of New South Wales, Australian Defence Force Academy, beschäftigt sich bereits seit Anfang der 1970er Jahre intensiv mit der Landwirtschaft im Allgemeinen und mit der japanischen Landwirtschaft im Besonderen. Vor diesem profunden akademischen Hintergrund erklärt sich das zu besprechende Opus von 856 Seiten Umfang, ein Lebenswerk, das die Autorin in ihrem Vorwort als lediglich ersten (!) Teil einer Trilogie bezeichnet. Diesem folgen noch Band 2 ("Politicians and Bureaucrats: Agricultural Policies and Policymaking in Japan") und Band 3 ("The Challenge to Vested Interests: Contesting Agricultural Power in Japan").
Im Vordergrund der Untersuchung stehen Interessengruppen, vor allem Bauern, Bauernverbände und Politiker. Organisatorisch geht es um die Frage, wie die Bauern ihre Interessen artikulieren, welche politischen Probleme sie motivieren, wie Bauernverbände mit politischen Parteien und der Zentralbürokratie kooperieren, welche Strategien sie zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele verfolgen, welchen Herausforderungen sie in Zeiten der Liberalisierung und Deregulierung ausgesetzt sind. Wahl- und parteipolitisch geht es um die Bewertung der Größe und Struktur des ländlichen Wählerpotentials, um ländliche und großstädtische Interessen, um die Intensität der Beziehungen zwischen Politikern der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) und der Bauern. Schließlich geht es auch um die Frage, wie Bauernverbände als Wahlorganisationen funktionieren, wie stark sich die Landwirtschaft im Parlament präsentiert und durch welche Rahmenbedingungen das Handeln der Politiker im Sinne bäuerlicher Interessen bestimmt wird.
Themen und Fragestellungen dieser Art scheinen der Autorin wie maßgeschneidert für den rational choice-Ansatz: Im politischen Kontext werden Individuen - als Wähler, Mitglieder von Interessengruppen, Parteipolitiker, Verbandsfunktionäre etc. - motiviert durch Selbstinteressen, d. h. durch rationale persönliche Nützlichkeitskalkulationen. Letztere als einzige, uniforme Variable anzusehen, hält die Autorin für methodisch unangemessen und wirklichkeitsfremd. Überhaupt steht sie theoretischen Aspekten ("artificial constructs") bewusst sehr zurückhaltend, ja kritisch gegenüber. Im Hinblick auf die politische Macht der japanischen Bauern und ihrer Verbände erscheinen ihr vielmehr wichtig: Hinterfragung von Stereotypen, Herausstellung elementarer Realitäten und verborgener Vielschichtigkeiten, Differenzierung an Stelle bekannter Verallgemeinerungen (S. XIX, 2, 36ff.). Übergreifendes Ziel des vorliegenden Werkes sowie auch der in Aussicht stehenden Bände 2 und 3 ist es daher, nicht theoriegeleitet zu arbeiten, sondern induktiv-empirisch auf die Wirklichkeit zu fokussieren, wissenschaftlich offen zu sein. Diese Priorität, eine behutsame, den japanischen Verhältnissen angemessene Vorgehensweise, lässt sich aus der Sicht sozialwissenschaftlicher Japanforschung durchaus positiv bewerten.
Nach einem Einführungskapitel, in dem wesentliche Agrarstrukturen und Agrarinteressen vorgestellt werden, geht es im Kapitel 2 ("Interest group politics") um die Entwicklung bäuerlicher Organisationen in der Nachkriegszeit, insbesondere um die Struktur und Funktionen der Nôkyô (Agrarverband) als Sprachrohr für praktisch alle japanischen Bauern. Nôkyô wie auch anderen bäuerlichen Interessengruppen werden zwar stark korporatistische Züge attestiert. Diese fallen jedoch je nach Einzelfall sehr unterschiedlich aus, weshalb MULGAN im Hinblick auf das System Japan den Begriff "pluralistischer Korporatismus" vorzieht (S. 161). Kapitel 3 ("Farmers' politics") behandelt die politische Präsenz Nôkyôs und sonstiger landwirtschaftlicher Interessengruppen sowie deren Einfluss im Parlament. Die Interessen der Bauernverbände waren in der Nachkriegszeit zunächst mit keiner bestimmten Partei verwoben, sondern wurden erst seit den späten 60er Jahren immer stärker mit denen der LDP identisch, dies um so mehr, je stärker und länger die LDP als Regierungspartei die politischen Richtlinien zugunsten landwirtschaftlicher Interessen bestimmte. Kapitel 4 ("Organisational politics") konzentriert sich im Wesentlichen auf die Bewertung der Nôkyô als einer sich wandelnden Organisation. Längst zu einer kartellähnlichen Finanzvereinigung mutiert, geht es dieser heute nur noch vorgeblich (tatemae) um die Vertretung der Landwirtschaft, tatsächlich jedoch um die Wahrung eigener Interessen, vor allem um Finanzaktivitäten - amateurhaft gehandhabt und zunehmend nicht-landwirtschaftlich orientiert. Dies geht zu Lasten der kleinbäuerlichen Nebenerwerbsbetriebe, von denen Nôkyô abhängt und deren ineffiziente Struktur sie zu erhalten sucht: Nôkyô erscheint als neoklassisches Beispiel für vested interests, die verschwinden müssen, soll die japanische Landwirtschaft international wettbewerbsfähig werden.
Kapitel 5 ("The political demography of agriculture"), von besonderem Interesse für die Humangeographie, analysiert vor dem Hintergrund langzeitiger Land-Stadtwanderungen die Unstimmigkeiten zwischen der enorm geschrumpften landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung und ihrer immer noch starken politischen Macht als Wählerschaft. Als wesentlicher Grund für diese Diskrepanz gelten die bis zur Revision des Wahlgesetzes 1994 unangetastet gebliebenen Wahlkreise, die nach jahrzehntelanger Ausdünnung ländlicher Räume den Wählerwillen zugunsten der Provinz und der LDP (teilweise auch der Sozialistischen Partei!) zu Lasten der Stadtregionen immer mehr verfälschten (gerrymandering). Die Wahlergebnisse nach der (nur unzureichenden) Wahlrechtsreform 1994 belegen allerdings auch, dass die politische Macht der Bauern und ihrer Verbände nur allmählich rückläufig ist und die ländliche Bevölkerung zunächst weiter eine stabile, im Vergleich zu der Zeit vor 1994 und im Verhältnis zu den Stadtregionen sogar noch bedeutendere Wählerschaft für die LDP darstellt. Kapitel 6 ("Electoral politics") knüpft an dieses Problem an und erklärt, wie und warum Nôkyô und sonstige Bauernverbände Wahlstimmen für die von ihnen favorisierten Kandidaten mobilisieren. Sie gehen dabei äußerst pragmatisch danach vor, welcher der Kandidaten den Interessen der Bauern und ihrer Verbände am meisten entspricht. Der Wunschkandidat muss nicht unbedingt ein LDP-Mann sein, Nôkyô kann sogar mit einer parteipolitischen Alternative
drohen, sollten ihre Forderungen nicht aufgegriffen werden. Umgekehrt gibt es Anzeichen dafür, dass sich LDP-Politiker in Anbetracht eines an Gewicht abnehmenden ländlichen Wählerpotentials von der Nôkyô distanzieren.
Kapitel 7 ("Representative politics") markiert den politischen Einfluss der Bauernverbände durch die starke Vernetzung zwischen Interessengruppen und (vor allem LDP-) Parlamentsabgeordneten. Anregend ist der internationale Vergleich zwischen den Interessenwahrnehmungen im japanischen System und den im Westen praktizierten Lobby-
Strategien. Parlamentsabgeordnete in Japan sind verglichen mit ihren westlichen Kollegen in hohem Maße Vertreter auswärtiger Interessen, dergestalt, dass sie oft eine Doppelfunktion wahrnehmen: als Volksvertreter und als Funktionäre - und die Partei im Extrem zu einem "politischen Warenhaus" für Interessenverbände degradieren.
Kapitel 8 ("Policy campaining") analysiert vor dem Hintergrund der Handelsliberalisierung im Rahmen der Uruguay-Runde die öffentlichkeitswirksamen Strategien Nôkyôs zur Durchsetzung kleinbäuerlicher Interessen, insbesondere des jährlich mit dem Landwirtschaftsministerium neu auszuhandelnden Reispreises. In den 1960er und 70er Jahren gelang es Nôkyô, jeden Sommer kurz vor der Fixierung des Reispreises bis zu 15.000 Bauern zu mobilisieren, im Regierungsviertel Tôkyô ritualmäßig Flagge zu zeigen. Ende der 90er Jahre ließen sich mit Mühe nur noch 1.000 bis 2.000 Demonstranten für derartige Massendemonstrationen ein-spannen, weshalb Nôkyô inzwischen weniger simple Strategien bevorzugt, z. B. unmittelbar über die Medien. Die Bauern stehen längst nicht mehr geschlossen hinter ihrem zentralen Sprachorgan. Seit dem Ende der langen Alleinherrschaft der LDP 1993 und dem Zwang der LDP zu Koalitionen (seit 1994) sind die informellen vertraulichen Abmachungen zwischen Nôkyô und der LDP nicht mehr in dem Maße wie früher aufrechtzuerhalten. Jahrzehntelange Gewohnheiten während des LDP-Monopols lassen sich jedoch nicht so leicht abschaffen. Pfadabhängigkeit verhindert die schnelle Überwindung ineffizienter Agrarstrukturen. Nach MULGAN benötigt Nôkyô eine realistische Vision, um sich organisatorisch umzustellen auf das, was Japan für die Zukunft braucht: nicht die Nôkyô-Klientel winziger, unrentabler Familien- und Nebenerwerbsbetriebe, sondern eine wettbewerbsfähige, korporativ strukturierte Landwirtschaft, sei es in Form kollektiv organisierter bäuerlicher Haushalte oder börsennotierter Agrarunternehmen. Das kurze Kapitel 9 ("Conclusion") schließt ohne theoretische Vernetzung.
Das Buch von AURELIA GEORGE MULGAN ist ein "Muss" für jeden, der sich intensiv mit der Landwirtschaft Japans auseinandersetzen will. Es besticht durch seinen empirischen Gehalt. Es dürfte wohl kein Werk in westlicher Sprache geben, in dem man dermaßen differenziert über Fakten, Prozesse und Argumente bezüglich landwirtschaftsbezogener Interessengruppen erfährt. Die ausführliche Bibliographie beinhaltet etwa zur Hälfte originaljapanische Literatur, womit die Autorin die Tiefgründigkeit ihrer Arbeit unter Beweis stellt. Ein ausführlicher Index ermöglicht gezieltes Nachschlagen. Der Text ist angereichert mit zahlreichen informativen Tabellen, Abbildungen und einem kleingedruckten Fußnotenapparat, der allein 155 Seiten (!) in Anspruch nimmt - leider als Anhang. Spätestens hier stellt sich die Frage: Macht es Sinn, dieses kompendiumartige Opus von Anfang bis Ende durchzuarbeiten? Was bleibt angesichts der Materialfülle im Dickicht "dichter Beschreibung" als Ertrag hängen?
Das Werk ist - leider - nicht sonderlich leserfreundlich. Seine Fülle und Differenziertheit erweisen sich nicht nur als Vorteil. Die Überschriften der Einzelkapitel, die je fast 100 Seiten ausmachen, sind gemessen an ihrem Inhalt zu wenig aussagekräftig, teils widersprüchlich. Fußnoten lassen sich nur mit Mühe zurückverfolgen. Jedes Kapitel ist zwar für sich auch ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs verständlich, dafür müssen allerdings bei der Gesamtlektüre zahlreiche Redundanzen in Kauf genommen werden. Es fehlt ein Verzeichnis der zahlreich zitierten Akronyme. Bedauerlich ist schließlich, dass der souveräne Umgang mit originalsprachlicher Literatur bei der Transkription japanischer Termini, die zuhauf zitiert werden, nicht Ausdruck in einer Kennzeichnung der Silbenlängen gefunden hat.
Auf eine Einordnung der empirischen Befunde in neoklassische ökonomische Theorie wird bewusst verzichtet - obwohl manchmal genau davon im Text die Rede ist. Der
Rezensent fragt sich, warum die Autorin ihre theoretischen Kompetenzen nicht stärker nutzt, um die Fülle ihrer Ergebnisse verständlicher zu machen. Dazu hätten sich gerade unter Berücksichtigung japanischer Besonderheiten durchaus Möglichkeiten ergeben, z. B. institutionentheoretische Ansätze. Dass Bauernverbände z. B. im Rahmen des viel diskutierten "Eisernen Dreiecks" eine Rolle spielen, erfährt man eher beiläufig (S. 295: seikannô no yûchaku: Verflechtung aus Politik, Ministerialbürokratie, Landwirtschaft). Welchen Einfluss in dieser Machtkonstellation die Bauernverbände ausüben, wie stark die Bedeutung der Machttriade im Rahmen von Agrarinteressen war bzw. noch ist, dieses viel diskutierte Problem des "Systems Japan" wird nicht weiter verfolgt. Fast ausgeblendet bleibt das Interesse der Konsumenten, auf deren Rücken die Hauptlast ineffizienter Agrarpolitik ruht. Vermisst wird außerdem jedwede Beziehung agrarwirtschaftlicher Interessen zum vieldiskutierten Thema Nachhaltigkeit. Diesbezüglich und im Hinblick auf die Machttriade s. MCCORMACK, G. 20012 (19961): The Emptiness of Japanese Affluence. Armonk, N.Y. u. a., darin vor allem S. 113-149 ("The Farm State"). Es ist zu hoffen, dass in den angekündigten Bänden 2 und 3 auf Entsprechendes eingegangen wird.
Autor: Winfried Flüchter

Quelle: Erdkunde, 57. Jahrgang, 2003, Heft 2, S. 144-146