Pál Beluszky: Historische Geographie der Großen Ungarischen Tiefebene. Passau 2006 (Studia Hungarica). 280 S.
Die Große Ungarische Tiefebene – auf Deutsch in einer falschen Übernahme aus dem Ungarischen auch „Pußta“ genannt – gehört zu den großen Symbollandschaften Europas. Nicht nur für den deutschen Heimatfilm der 50er Jahre („Ich denke oft an Piroschka“) ist die Tiefebene das Sinnbild Ungarns, der Ort, an dem der ausländische Besucher das „wahre“ Ungarn erfahren kann; auch in der innerungarischen Wahrnehmung dient sie seit dem 19. Jahrhundert als die nationale Landschaftsform.
Dies geschieht aus zweierlei Blickwinkeln: Zum einen repräsentiert sie in ihrer natur- und kulturräumlichen Einzigartigkeit die Einzigartigkeit der Ungarn und weist mit archaischen Tier- und Pflanzenrassen scheinbar auch in die Zeit der ungarischen Landnahme im 9. Jh. zurück. Andererseits stellt sie mit dem Elend der Einzelhöfe und der Proletarisierung der Landbevölkerung die gesamte ungarische Gesellschaft vor die „nationale Schicksalsfrage“, wie das ökonomische Überleben dieses Landstrichs gesichert werden kann. Erst der Sozialismus kann zumindest die fortschreitende Verelendung der Tieflandbewohner beenden, eine tragfähige Wirtschaftsstruktur entsteht in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. aber ebenfalls nicht.
Der Autor, seit Jahrzehnten einer der international renommiertesten Geographen Ungarns, stellt sich in dem vorliegenden Werk die Aufgabe, in klassischer historisch-genetischer Manier die Landschafts- und dabei vor allem Siedlungsformen der Großen Ungarischen Tiefebene (im weiteren: Tiefebene) zu erklären. Insbesondere zwei Merkmale sind dabei von Interesse: zum einen die Entstehung von Großsiedlungen („Städten“), die kaum zentralörtliche Funktionen aufweisen und – damit eng zusammenhängend – deren teilweise mehrere zehntausend Einwohner bis weit ins 20. Jh. fast ausschließlich in der Landwirtschaft arbeiten; zum anderen die im 19. Jh. sich ausbreitenden abgelegenen Einzelhofsiedlungen als Dauereinrichtung.
Das Landschaftsbild der Riesendörfer mit den dazwischen liegenden Einzelhöfen konfrontiert der Autor zunächst mit den wichtigsten Erklärungsansätzen der einschlägigen Literatur: den natürlichen Gegebenheiten, dem nomadischen Erbe aus der Zeit der Landnahme, der peripheren Lage, der Grenzlage (als „frontier“) und einer allgemeinen Zurückgebliebenheit. All diese Aspekte tragen – so der Autor – zu einzelnen Aspekten der Siedlungsstruktur bei, können diese als Typus aber nicht erklären. Vielmehr ist die Entstehung Resultat einer ökonomischen und sozialen Sonderentwicklung, die über Jahrhunderte als erfolgreich angesehen werden kann und erst mit der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft ihre problematischen Züge zeitigte.
Die spätestens seit dem 20. Jahrhundert auftretenden sozioökonomischen Probleme können cum grano salis als Resultat einer vorangegangenen Erfolgsgeschichte interpretiert werden. Teilweise schon im Mittelalter, im wesentlichen aber in der Neuzeit bildet sich hier eine Wirtschaftsform heraus, die sich als hochrentabel erweist: die extensive Viehzucht für den europäischen Markt in einer kaum feudalisierten Gesellschaft (keine Leibeigenschaft o. ä.). Auch während der Türkenherrschaft und nach der habsburgischen Rückeroberung der Tiefebene bleibt diese Wirtschaftsform weitgehend bestehen; Feudalisierungsbestrebungen scheitern an der wirtschaftlich starken und auch religiös emanzipierten, seit dem 16. Jh. protestantischen Bevölkerung, die im Landesvergleich auch über ein hohen Bildungsniveau und eine gute Versorgung etwa mit Ärzten verfügt.
Mit der Industrialisierung gerät dieses Wirtschaftsmodell in die Krise; vorübergehend, vor allem in der Agrarkonjunktur im späten 19. Jh., können die Einkommensverluste durch die Umstellung auf Ackerbau, für den nun die temporären Unterkünfte der Weidehirten in permanente Betriebseinheiten (Einzelhöfe) umgewandelt werden, zumindest teilweise kompensiert werden. Spätestens im 20. Jh. erweist sich jedoch die einseitige Ausrichtung auf die Agrarwirtschaft der Tiefebene nicht nur als nicht zukunftsfähig, sondern in ihrer besonderen Ausgestaltung auch als kaum wandlungsfähig; das Landschaftsbild der Tiefebene wird zum Symbol einer hoffnungslos zurückgebliebenen wirtschaftlichen und sozialen Lage.
Nicht nur diesen Befund, sondern auch die einzelnen Etappen und Facetten des geschilderten Entwicklungsprozesses stellt der Autor in zahlreichen, mit Karten und anderem Material unterfütterten Analyseschritten dar. Gerade in dieser Materialfülle liegt jedoch auch ein Schwachpunkt des Buches: Die in aufwändigen Archivarbeiten ermittelten Einzelheiten, wie sie für lokale und subregionale Beispiele geschildert werden, werden nur partiell zu einem Gesamtbild zusammengefasst, so dass sie die geschilderten Entwicklungen eher illustrieren als zu deren vertieftem Verständnis beitragen. Es bleibt daher oft unklar, inwieweit die Einzelstudien exemplarisch die Situation der Tiefebene schildern bzw. ob es sich um jeweils besondere Varianten eines Gesamtprozesses handelt. Dieses Problem liegt in der weitgehend deskriptiven, kaum theoretisch abgesicherten Argumentation des Autors begründet; dieses Manko kann jedoch zumindest teilweise durch die Darlegung des detailreichen Materials ausgeglichen werden, das insgesamt sehr gut die verallgemeinernden Aussagen zu belegen in der Lage ist.
Das Buch bietet den Lesern in der deutschsprachigen Geographie daher einerseits sowohl einen sehr guten Einblick in eine zentrale Fragestellung der historischen Siedlungsgeographie in Ungarn als auch zahlreiche interessante Informationen über die Genese einer in Europa einzigartigen Kulturlandschaft, lässt die Leser andererseits aber auch mit der Frage allein, ob es zur Absicherung der zentralen Argumentation tatsächlich all der teilweise nur lose miteinander verknüpften Detaildarstellungen bedurft hätte. Gerade dieses Problem könnte dazu führen, dass die Leserschaft auf den recht überschaubaren Kreis historischer Siedlungsgeographen begrenzt bleibt, was angesichts des großen nationalpolitischen Symbolwerts der Tiefebene insbesondere in Ungarn zu bedauern wäre.
Autor: Wolfgang Aschauer