Andy Merrifield: Metromarxism. A Marxist Tale of the City. London und New York 2002. 224 S.

Andy Merrifield: Dialectical Urbanism. Social Struggles in the Capitalist City. New York 2002. 224 S.

Schenkt man der Einschätzung verschiedener angloamerikanischer Geographinnen und Geographen Glauben (z.B. Smith 2001), dann ist eine am Marxismus orientierte Geographie nach Jahren der Defensive in Folge von Angriffen aus verschiedenen theoretischen und politischen Lagern seit einiger Zeit wieder im Aufwind begriffen. Dieses Revival wird nicht nur von den "Altmeistern" wie David Harvey oder Neil Smith, sondern auch und gerade von einer "zweiten Generation"1 (ebd., S. 15) marxistischer Geographinnen und Geographen getragen. Neben neuen Themenschwerpunkten wie der Produktion räumlicher Maßstabsebenen und der Geographie der Arbeit (ebd., S. 14-17) steht dabei nach wie vor die Stadt im Mittelpunkt des Interesses - jenes Thema also, mit dem marxistisch orientierte Geographinnen und Geographen auch außerhalb der Disziplin seit nunmehr drei Jahrzehnten viel Gehör finden.

Daß gerade diese Arbeiten auch den Weg in die Nachbardisziplinen gefunden haben, ist kein Zufall. Denn auch wenn es um die Frage einer dezidiert "Marxistischen Geographie" manche Kontoverse gegeben hat (Harvey/Smith 1984, S. 112), so überwiegen doch die Stimmen, die aus dem Marxstudium (wenn auch natürlich nur als "Nebenprodukt") die Überwindung der akademischen Disziplingrenzen ableiten. Damit ist dann nicht die beliebte Forderung nach Interdisziplinarität gemeint, innerhalb derer Geographinnen und Geographen die ‚geographische Dimension' beizutragen hätten, sondern die Analyse konkreter Gegenstände und Probleme, bei der die Einteilung der sozialen Welt in wissenschaftliche Disziplinen nicht [1 Übers. aller Zitate: B.B.] nur überflüssig, sondern kontraproduktiv ist2 . Dies gilt auch für die beiden hier vorzustellenden Neuerscheinungen des britischen Geographen Andy Merrifield, seines Zeichens marxistischer Geograph der zweiten Generation: Er schert sich um Disziplingrenzen wenig und beschäftigt sich stattdessen marxistisch (und nicht "geographisch") mit Problemen der Stadt. Im Fall von Metromarxism geschieht dies anhand der Diskussion einzelner Autoren, in Dialectical Urbanism mittels der Analyse urbaner Kämpfe. Beide Bücher sind so angelegt, daß die Kapitel auch einzeln mit Gewinn gelesen werden können.
In Metromarxism wirft Merrifield einen Blick zurück auf den Beitrag einzelner Marxisten zum Thema Stadt. Neben Einleitung und Nachwort finden sich sieben Kapitel, die jeweils dem ‚urbanen Teil' des Werks eines Theoretikers gewidmet sind: Marx, Engels, Benjamin, Lefebvre, Debord, Castells und Harvey. Dies geschieht in einer Mischung aus biographischen Elementen, historischem Kontext, Darstellung der wichtigsten Werke, ihrer Bezüge und ihrer theoretischen und politischen Wirkungen. Dabei verwendet Merrifield fast ausschließlich Originalliteratur und verzichtet auf Sekundäranalysen. Mitunter werden dort, wo es sinnvoll erscheint, die wichtigsten theoretischen Bezüge des jeweiligen Autors eingehender dargestellt. So wird die Hegel-Interpretation bei Lefebvre, der Einfluß von Lukács auf Benjamin oder derjenige von Althusser und Poulantzas auf Castells jeweils anhand der wichtigsten Texte und Argumente behandelt. Insbesondere im Kapitel über Marx geht Merrifield über die Beiträge zum Thema Stadt hinaus, was nur nahe liegt, da sich alle anderen Autoren auf Marx beziehen. In der Natur des bearbeiten Materials liegt es auch, daß Merrifield die Ideen einiger Autoren weit kohärenter darstellt, als sie in deren Werk vorliegen. Gerade in den Abschnitten zu Benjamin, Lefebvre und Berman hat Merrifield neben der Zusammenfassung vor allem auch viel Interpretations- und Strukturierungsarbeit geleistet. Alle sieben Kapitel bieten neben einer gelungenen Einführung in das jeweilige Werk auch für mit den behandelten Autoren Vertraute manche Erkenntnis und können m.E. als voll gelungen bezeichnet werden. In Dialectical Urbanism präsentiert Merrifield Untersuchungen unterschiedlicher urbaner Kämpfe von verschiedenen Orten. In den einzelnen Kapiteln geht es um den Streit um die Nachnutzung einer ehemaligen Fabrikhalle in Baltimore, um den erfolglosen Versuch der Revitalisierung eines innenstädtischen Problemquartiers in Liverpool, um Kampagnen zur Bezahlung einer Living Wage (ungefähr: eines Lohns, der über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt und von dem man einigermaßen leben kann) in Los Angeles sowie, in New York, um die zero tolerance-Strategie der Polizei gegen Unordnung im öffentlichen Raum und um die Aufwertung von Harlem, die mit einer Umwandlung von single-room-occupancy Einheiten (SROs) in hochwertigen Wohnraum einhergeht. Auch stilistisch sind diese Kapitel recht heterogen: Während die Abschnitte über LA und die SROs eher journalistisch, mit vielen O-Tönen und wenig Theoriebezügen, gehalten sind, wird in den anderen Teilen weit mehr an Erklärung geboten. In allen Abschnitten werden Auseinandersetzungen behandelt, in denen ökonomische und politische Makroprozesse auf die Lebenswelt von Bewohnern vor Ort einwirken und sie zu einem Umgang mit ihnen zwingen. So wird etwa in die jüngere Geschichte des American Can-Komplexes in Baltimore deren finanzkapitalistischer Hintergrund der junk bonds eingeflochten, mit deren Hilfe hier aus Produktionsstätten Spekulationsobjekte wurden. Zentral ist dabei in allen Fällen die Frage nach der Mobilität des Kapitals im Gegensatz zur Ortsgebundenheit der heimischen Bevölkerung. Anhand des American Can-Beispiels zeigt Merrifield einerseits, daß sich das Kapital auf Grund seiner Befehlsgewalt über den Raum in der stärkeren Position befindet (2002b, S. 44). Andererseits belegen einige erfolgreiche living wage- Kampagnen, daß die behauptete "Hypermobilität verschiedener Fraktionen von Handels- und verbautem Kapital übertrieben ist" (ebd., S. 96). So konnten die Gewerkschaften in der Tourismusindustrie in Santa Monica erreichen, daß dort für Hilfsarbeiterinnen und -arbeiter ein Lohn gezahlt wird, der weit über dem staatlich vorgeschriebenen Mindestlohn liegt (ebd.). Den Grund für diesen relativen Erfolg (der den Arbeitern natürlich immer noch [2 Vgl. dazu auch die beißende Kritik Louis Althussers am Mythos der Interdisziplinarität im Rahmen seiner Vorlesungen zur Spontanen Philosophie der Wissenschaftler: "Diese Ideologie läßt sich auf eine kurze Formel bringen: Wenn man etwas nicht weiß, das alle nicht wissen, dann genügt es, alle Unwissenden zu versammeln: die Wissenschaft wird das Ergebnis der Versammlung der Unwissenden sein." (1985, S. 51)] kein luxuriöses Leben erlaubt, sondern eines oberhalb völliger Verarmung) sieht Merrifield darin, daß die Hotels schlicht an den Standort Santa Monica gebunden sind. In diesem Zusammenhang deutet er auch an, daß Teile des Kapitals grundsätzlich an Städte gebunden sind, weshalb living wage-Kampagnen sinnvoller Weise auf der Ebene der Stadt durchzuführen seien (ebd.). An dieser Stelle hätte sich eine genauere Analyse der Frage angeboten, welche Typen der Mehrwertproduktion in welcher Weise standortgebunden und damit eher zur Zahlung höherer Löhne zu bewegen sind.
Das Aufeinandertreffen von Makro- und Mikroprozessen in der Stadt bezeichnet Merrifield als "Dialektik von Urbanismus und Urbanisierung" (2002b, S. 9). Nicht nur an dieser Stelle bedient sich Merrifield des schillernden Begriffs der "Dialektik". Der Nutzen bzw. die Schwäche dieses Vorgehens soll im Folgenden einer näheren Analyse unterzogen werden. Dazu soll zunächst daran erinnert werden, welche Bedeutungsdimensionen diesem Begriff bei den klassischen wie bei verschiedenen neueren Autoren zukommt. Bei den Klassikern sind zu nennen:
• "Dialektik" als eine der freien Künste in der antiken Philosophie, die die Überzeugung des Gegenübers im Gespräch zum Inhalt hat;
• Kants erkenntnistheoretische Bestimmung der "transzendentalen Dialektik" als "natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft" (KrV B, S. 354), die in dem Verhältnis zwischen "Noumenon" und "Phaenomenon" besteht, also zwischen Wirklichkeit und Abbild;
• Hegels Bestimmung von Dialektik im Rahmen der Logik als Betrachtung der Denkformen "an und für sich [...]; sie sind der Gegenstand und die Tätigkeit des Gegenstands selbst" (Hegel 1970, S. 114); Dialektik also als Nachdenken über den konkreten Gegenstand des Denkens selbst, was aber nicht nur die Analyse eines Besonderen (des Denkens) ist, sondern, weil damit die Funktionsweise des Denkens an sich und unabhängig vom Gegenstand untersucht wird, "das Absolut-Wahre" (Hegel 1969, S. 56);
• Marx, der in der dialektischen Methode als Darstellungsweise des zuvor Durchdachten, die sinnvoller Weise vom Abstrakten zum Konkreten fortschreitet (MEW 13, S. 631), den "rationellen Kern" (MEW 23, S. 27) der idealistischen Dialektik Hegels bestimmt hat;
• Engels' ontologische Realdialektik, die die "Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens" (MEW 21, S. 293) ist und in der Sowjetunion kanonisiert wird.
An jüngeren Bestimmungen, auf die sich Merrifield bezieht, wären zu nennen:
• Lefebvres widersprüchliche Bestimmung, in der einerseits gilt, daß (wie bei Marx) der Inhalt "das Denken bestimmt" (Lefebvre 1967, S. 82), andererseits aber (ähnlich Kant) die "dialektische Methode [...] das historische und soziologische Objekt [konstruiert]" (ebd.) und zudem (wie bei Engels) die Dialektik "wirklich vor dem Geist - im Sein" (ebd., S. 88) ist; laut derer sich die Erkenntnis außerdem "nach universellen Wahrheiten wie der folgenden richtet: ‚Überall, immer und in jedem Ding gibt es Widersprüche.'" (Lefebvre 1975, S. 29)3 ;
• Ollmans und Harveys Bestimmung von Dialektik als "Philosophie interner Relationen", in der "die Art und Weise, in der Dinge zusammenhängen, essentielle Attribute dessen werden, was sie sind" (Ollman 1993, S. 37) und "interne Relationen" zum "ontologischen Prinzip" (Harvey 1996, S. 49) erhoben werden.
Vor dem Hintergrund dieser Bedeutungsvielfalt des Begriffs Dialektik kann nunmehr gefragt werden, was Merrifield unter ihm versteht. Dabei sind drei Aspekte zu unterscheiden: Merrifields Darstellung der Marxschen Dialektik sowie seine Begriffe "me- [3 Diese Aussage ist natürlich selbstwidersprüchlich, da sie einerseits jede universelle Wahrheit auf Grund real vorliegender Widersprüche ablehnen muß, andererseits die Existenz der Widersprüche zu einer universellen Wahrheit (die es ja nicht geben dürfte) erklärt. Damit wird die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch negiert und so das Bestrittene (Widerspruchsfreiheit) für die Aussage selbst voraussetzt (universelle Wahrheit). Diese wird so völlig beliebig. Denn die Aussage, daß Widersprüche nicht ausgeschlossen werden dürfen, schließt gerade nicht aus, ihr zu widersprechen, sondern lädt vielmehr dazu ein: Im Widerspruch zu dieser Aussage - also ganz in ihrem Sinne - kann man jederzeit behaupten, daß Widersprüche sehr wohl auszuschließen sind. Dialektiker wie Lefebvre, die Freunde des Widerspruchs sind, können also dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, indem sie ihm widersprechen, gerade nicht widersprechen.¢ tropolitane Dialektik" und "negative Dialektik der Stadt".
Im Kapitel über Marx in Metromarxism wird Dialektik bestimmt als "die Methode und das Denksystem [mittels dessen] alle Widersprüche und Paradoxa, Flüsse und Ströme, Thesen und Antithesen, das Leben und der Geist als eine Art kohärentes Ganzes erfaßt" (2002a, S. 14) werden können. Dabei betont er, wie Ollman und Harvey, den Aspekt der inneren Zusammenhänge, wie Lefebvre den vom Widerspruch in der Totalität. Dialektik ist somit sowohl ontologisch wie auch methodologisch bestimmt. Über den Gehalt dieser Bestimmung läßt sich streiten, sie steht aber deutlich in der skizzierten Tradition des Begriffes. In Merrifields eigener Anwendung der Dialektik auf die Stadt hingegen nimmt sie m.E. einen anderen, im Begriff der Dialektik sonst höchstens marginal enthaltenen Sinn an.
In Metromarxism stellt Merrifield fest: "Marx heißt die Urbanisierung willkommen" (2002a, S. 22), um kurz darauf zu behaupten er würde "die Stadt aus ethischen Gründen verurteilen" (ebd., S. 24). Damit unterstellt er Marx zunächst schlicht eine Meinung (bzw. derer zwei), wie er die Stadt an und für sich findet. Diese beiden Meinungen zusammen (Stadt willkommen heißen und verurteilen) bezeichnet Merrifield nun als Dialektik, genauer als "spezifisch metropolitane Dialektik" (ebd., S. 25). Damit verläßt er m.E. den Bereich der Dialektik als philosophischem Begriff, sei es im Sinne einer Ontologie, Methodologie, Epistemologie oder Darstellungsweise. Stattdessen bestimmt er sie durch einen Widerspruch auf normativer Ebene, eine Vorgehensweise, die Marx an Proudhon scharf kritisiert hat: "Herr Proudhon hat von der Hegelschen Dialektik nur die Redeweise. Seine eigene dialektische Methode besteht in der dogmatischen Unterscheidung von gut und schlecht." (MEW 4, S. 132)4 Bei Merrifield liest sich das z.B. so: "Dieselben dunklen Mächte, die die Warenform und den Weltmarkt hervorbrachten, gaben uns zugleich die Fabrikstadt und definieren (und unterminieren) unvermeidlich die moderne Großstadt." (2002a, S. 25) Die Dialektik liegt demnach in dem Widerspruch des Bösen des Kapitalismus ("dunkle Mächte") mit dem Guten seiner Überwindung ("unterminieren"). Das Gute der Stadt bestimmt Merrifield weiter etwa in seiner Kritik am nur das Negative sehenden Engels. Dieser "spielt ihre Atmosphäre herunter, versäumt es, bestimmte kulturelle Charakteristika, latente politische Möglichkeiten und menschliche Potentiale innerhalb des Alltagslebens auszumachen" (ebd., S. 48). Engels habe "die dikkere Textur und reichere Dichte der Stadt nie ganz verstanden" (ebd.). Weil er das Gute der Stadt unterschätze und somit nur eine Seite der "metropolitanen Dialektik" sehe, sei Engels bezogen auf die Stadt kein guter Dialektiker.
Dieselbe Konzeption von Dialektik findet sich auch in Dialectical Urbanism. Als sein Thema benennt Merrifield darin die o.g. "Dialektik von Urbanismus und Urbanisierung" (2002b, S. 9). Unter Urbanismus versteht er die individuelle Erfahrung der Stadtbewohner (Simmels Blasiertheit), die dazu führe, daß große Städte "einen bestimmten Typus von Leuten [hervorbringen] und von ihnen hervorgebracht werden" (ebd., S. 8). Dabei handle es sich "mindestens ebenso sehr [um] eine politische wie eine psychologische Erfahrung" (ebd.), da sie durch "Macht und Konflikt" (ebd.) bestimmt sei. Als Urbanisierung bezeichnet er politische und ökonomische Prozesse, die hinter dem Rücken der Subjekte stattfänden. Diese Dialektik von Urbanismus und Urbanisierung, mithin zwischen Mikro- und Makroprozessen, deren räumliche Dimension in der Dialektik zwischen lokalem Ort und globalem Raum liege, sei "heute verstrickt in eine internationalisierte und deregulierte Ökonomie" (ebd., S. 11). Deshalb sei die daraus resultierende interurbane Konkurrenz heute der entscheidende Rahmen für die Analyse der urbanen Erfahrung. Dieser wohne "das Beste und das Schlechteste menschlicher Zivilisation" (ebd., S. 15) inne. Die Dialektik von Urbanismus und Urbanisierung enthalte demnach "Freude, Freiheit und Hoffnung" (ebd.) ebenso wie "Nihilismus, Verzweiflung und Tod" (ebd.). Sie stellt also vor allem einen normativen Widerspruch dar, der sich in der Stadt manifestiert und mit dem Merrifield sich auseinandersetzen will, ja muß: "Wir müssen nunmehr durchdenken, mit welcher städtischen Unordnung und Erfahrung gelebt werden bzw. welche hingenommen werden soll - egal wie schmerzhaft und schockierend - und welche beendet werden soll." (ebd., S. 16) Die Brille, durch die [ 4 Diese normative Wendung findet sich meines Wissens ansonsten höchstens noch bei Harvey, der behauptet, daß Dialektik "notwendig das Einbeziehen ethischer, moralischer und politischer Wahlmöglichkeiten (Werte)" (Harvey 1996, S. 56) beinhalte (zur Kritik an Harveys normativer Marxinterpretation vgl. Belina 2003).] hindurch er die Analyse städtischer Konflikte betreibt, ist also eine normative.
Trotzdem bietet sie einige durchaus als dialektisch im Sinne einer Darstellungsweise zu bezeichnende Erkenntnisse. Im Schlußkapitel heißt es zur Dialektik von Urbanismus und Urbanisierung: Die Urbanisierung, die vom Tauschwert dominiert sei, produziere einen abstrakten, globalen Raum. Dieser Prozeß sei "untrennbar mit dem ‚allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation' verwoben" (ebd., S. 155; vgl. MEW 23, S. 640ff.). Dem gegenüber stehe der Urbanismus, für den nur der Gebrauchswert von Interesse sei und der einen konkreten lokalen Raum produziere (2002b, S. 156, 161). Beide Prozesse stünden sich, wenngleich mehrfach vermittelt durch den Staat sowie durch soziale und kulturelle Verhältnisse (ebd., S. 156), als widersprüchliche gegenüber. Sie seien zwei "Sphären, die zwei epistemologische Momente innerhalb einer ontologischen Einheit repräsentieren; den einen erfahren wir sinnlich - Urbanismus - den anderen nicht - Urbanisierung - und wissen doch, daß er trotzdem existiert" (ebd., S. 160). Auf diese Weise will Merrifield "die Totalität des urbanen Prozesses im Kapitalismus, wie die Ware selbst, als eine zweifache Bewegung rahmen" (ebd.). Doch nimmt auch diese theoretische Rahmung rezenter urbaner Prozesse eine normative Wende. Für Merrifield ist dies notwendig, da die beschriebene Dialektik "in letzter Instanz vielleicht nicht zu transzendieren" (ebd., S. 170) sei. Aus der Analyse folgt also nicht, daß nur mit der Beseitigung des Grundes der "metopolitanen Dialektik", des Kapitalismus, deren als negativ empfundene Seiten aufgehoben werden können. Dies sei auch gar nicht wünschenswert. Ihm gilt die ‚negative' Seite seiner Dialektik als zugleich abzulehnen und notwendig, stellt doch der Kampf zwischen dem negativen und dem positiven Pol den "Lebensnerv eines lebendigen Urbanismus, einer gemischten Stadt, einer radikalen Kultur" (ebd., S. 170f.) dar. Für Dialektiker bleibe deshalb nur die Aufgabe und die Verantwortung, zum einen ein kritisches Verständnis der Welt zu befördern (ebd., S. 121) und zum anderen als Schiedsrichter zu fungieren. In seiner Diskussion der zero tolerance-Strategie in New York etwa bedeutet dies zwischen "'guter' und ‚schlechter' Unordnung zu unterscheiden" (ebd.). Gegen die Kriminalisierung der ‚guten' Unordnung müsse die Forderung nach der "Stadt der Toleranz" (ebd., S. 122) treten. Diese ‚gute' Unordnung ist für Merrifield von einer weiteren Dialektik gekennzeichnet, der "von Anziehung und Abstoßen" (ebd., S. 103). Sie finde er etwa bei linken Stadtforschern wie Davis, Soja, Jameson oder Sorkin und bestehe in einer romantischen Faszination von der dystopischen Stadt: Die Stadt von Katastrophe, Armut, Einsamkeit etc. würde von diesen Autoren zwar kritisiert, zugleich seien sie aber zu ihr hingezogen (ebd., S. 102). Für Merrifield sind in dieser Hinsicht Baudelaire und Dostojevski die wahren Dialektiker, da beide Schriftsteller in ihren Werken Faszination und Ekel des Elends in der Stadt thematisierten. Damit bringen sie für Merrifield eine weitere Dialektik auf den Punkt, die "Negative Dialektik der Stadt" (ebd., S. 157 u.ö.)5 . Er wünscht sich eine "Stadt, deren Bewohner dem Negativen ins Angesicht sehen, nicht nur mit ihm leben, sondern dieses Negative zu einer positiven Kraft machen" (ebd., S. 157). Der Kampf wird Merrifield so zu einem Selbstzweck, der aus dem Schlechten und durch es hindurch zum Guten gelangen will. Deshalb gelten ihm "Kampf, Konflikt und Widerspruch als Teil eines engagierten und gerechten urbanen Lebens" (ebd., S. 170). Für diesen Kampf ist dann die negative Seite der Stadt notwendige Voraussetzung, denn wenn es nichts mehr gäbe, wogegen ins Feld gezogen werden kann, wäre auch der Kampf als Teil des guten Lebens hinfällig. In diesem Zusammenhang spricht Merrifield auch dem menschlichen Leiden, in Anlehnung an eine Formulierung [5 Diese hat mit Adornos Negativer Dialektik (1966) nichts zu tun und Merrifield bezieht sich auch nicht auf sie. Da die identische Formulierung trotzdem eine ähnliche Bedeutung nahe legt, sei kurz erwähnt, daß für Adorno der Kern der negativen Dialektik die Nichtidentität des Dings mit sich selbst ist: "nichts Partikulares ist wahr, keines ist, wie seine Partikularität beansprucht, es selbst" (ebd.: 153). Deshalb gilt: "Was es [das einzeln Existierende; B.B.] ist, ist mehr, als es ist" (ebd.: 162), nämlich neben seiner Wirklichkeit auch seine Möglichkeit. Diese steckt demnach in der Sache selbst und harrt ihrer Verwirklichung. Hier wird also das Sein (die Wirklichkeit) der Sache in einer Dialektik mit seinem Sollen (Möglichkeit) konstruiert, wobei beide Seiten im Ding selbst stecken. Es handelt sich mithin um eine Dialektik zwischen Sein und Sollen und nicht, wie bei Merrifield, um eine zwischen unterschiedlichen Bewertungen des Seins vor dem Hintergrund eines gewünschten Sollens (positive und negative Aspekte der Stadt).] des jungen Marx aus den Pariser Manuskripten von 1844, in denen er "das Leiden, menschlich gefaßt, [als] Selbstgenuß des Menschen" (MEW EB 1, S. 540) bezeichnet, eine produktive Funktion zu und mutmaßt, daß ohne diesen Antrieb durch das Negative auch alles Positive verloren ginge. Zu diesen Ausführungen des jungen Marx ist zweierlei anzumerken. Erstens geht es ihm in den Manuskripten um die Verwirklichung des Ideals vom ‚totalen Menschen' in der gemeinschaftlichen Aneignung der eigenen Natur durch die sinnliche Verbindung mit der äußeren, nicht mehr durch Lohnarbeit entfremdeten Natur im Kommunismus. Dabei gilt ihm das Leiden als Moment dieser Aneignung, die nur jenseits kapitalistischer Verhältnisse überhaupt zum Ziel (‚totaler Mensch') führen kann und nicht, wie bei Merrifield, innerhalb der kapitalistischen Stadt. Zweitens hat sich Marx schon kurz nach 1844 von seinen jugendlichen Idealismen bzgl. Humanismus, ‚menschliches Wesen' und ‚totaler Menschen' distanziert und diese explizit kritisiert (MEW 3, S. 217f.). Was ist nun von den diversen Dialektiken zu halten, mit deren Hilfe Merrifield die aktuelle Stadt darstellt und bewertet? M.E. begibt er sich mit seinen normativen Verlängerungen der dargestellten Erklärungen des Seins ins Sollen hinein auf dünnes Eis. Anstatt den einzig sinnvollen Schluß zu ziehen, daß es nämlich polit-ökonomische Gründe für das Elend in den Städten gibt, und daß es - sofern man sich an dem Elend stört - deshalb gilt, diese zu bekämpfen, verwandelt er Folgeerscheinungen dieser Gründe in Notwendigkeiten für ein gutes Leben, zu dem ein unbestimmter, zweckloser (d.h.: keinen konkreten Zweck verfolgender) Kampf gehört. Da es nicht notwendig zu sein scheint, diesen inhaltlich näher zu bestimmen, könnte er sich gleichermaßen gegen ‚Negermusik'‚ ‚fußgängerfeindliche Verkehrsführung' oder ‚Pommes' richten - er wäre immer wahrer Quell "eines lebendigen Urbanismus, einer gemischten Stadt, einer radikalen Kultur" (ebd., S. 170f.; s.o.). Diese Abstraktion vom Inhalt des Kampfes macht zudem die gesamte Erklärung der beschriebenen Prozesse überflüssig. Denn ob und wie das sichtbare Elend in den Städten erklärt wird, ist egal, wenn die Notwendigkeit eines Kampfes um seiner selbst willen schon ganz abstrakt zuvor gesetzt ist.
Der Kritik an diesen idealistischen Verlängerungen ungeachtet, die m.E. schlicht überflüssig sind, sollte festgehalten werden, daß es in beiden Büchern viel Wertvolles zu entdecken gibt. Die Analysen städtischer Konflikte zwischen der Lebenswelt der Betroffenen und der Realität des kapitalistischen Weltmarktes in Dialectical Urbanism sind sowohl für sich genommen als auch, was ihre Beispielhaftigkeit angeht, überzeugend und informativ. Dasselbe gilt für die Diskussion der sieben ausgewählten Theoretiker in Metromarxism, die sich sowohl zum Einstieg (und mithin auch für die Lehre) als auch für eine kritische Vertiefung eignen. Schließlich sei auch darauf hingewiesen, daß beide Bücher sehr gut zu lesen sind und Metromarxism zudem durch ein m.E. sehr gelungenes Design überzeugt.
Literatur
Adorno, T.W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt a.M..
Althusser, L. (1985): Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler. Berlin [1967].
Belina, B. (2003): Harveys Postmodernisierung des Marxismus: Zwischen den Stühlen. Geographische Revue 5, S. 61-69.
Harvey, D. (1996): Justice, Nature, and the Geography of Difference. Oxford.
Harvey, D. und N. Smith (1984): Geography: from capitals to Capital. B. Ollman und E. Vernoff (eds.): The Left Academy. Vol. II. New York et. al., S. 99-121.
Hegel, G.W.F. (1970): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Teil 1 (= Werke 8). Frankfurt a.M. [1830].
Hegel, G.W.F. (1969): Wissenschaft der Logik 1 (= Werke 5). Frankfurt a.M. [1812].
Kant, I. (1995): Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart [1781, 2. Aufl. 1787]. Zit. als KrV.
Lefebvre, H. (1975): Der Marxismus. München [1948].
Lefebvre, H. (1967): Der dialektische Materialismus. Frankfurt a.M. [1939].
Marx, K. und F. Engels (1969ff.): Marx-Engels- Werke. Berlin. Zit. als MEW.
Ollman, B. (1993): Dialectical Investigations. New York und London.
Smith, N. (2001): Marxism and Geography in the Anglophone World. Geographische Revue 3, S. 5-21.  
Autor: Bernd Belina

Quelle: Geographische Zeitschrift, 91. Jahrgang, 2003, Heft 3 u. 4, Seite 245-250